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Editorial zum Bukowina-Heft II
Das vorliegende Heft setzt den Bukowina-Schwerpunkt von Nr. 2/2000 fort. Im ersten Bukowina-Heft wurde die Geschichte der Bukowina und ihrer Literatur bis zur Katastrophe der Jahre 1940-45 dargelegt, dieses Heft beginnt nun mit der Darstellung der Verfolgung und Ermordung der Juden und Roma auf dem Gebiet des damaligen Rumänien und führt uns dann in die Gegenwart, in das heutige Leben in der Bukowina einerseits, in das Weiterschreiben im Exil andererseits. Besonders freuen wir uns in diesem Zusammenhang über die Beiträge der aus der Bukowina stammenden und in Israel lebenden Margit Bartfeld-Feller, Sidi Gross und Josef Norbert Rudel.
Wie bedeutsam die Bukowina als literarische Landschaft ist, zeigt sich auch darin, dass das Lexikon der österreichischen Exilliteratur nicht weniger als 40 Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in der Bukowina geboren wurden und/oder Schulen und Universitäten besucht haben, verzeichnet: Emil Arnold-Holm, Rose Ausländer, Uriel Birnbaum, Karl Bittmann, Klara Blum, Gottfried Brenner, Hedwig Brenner, Josef Burg, Paul Celan, Erwin Chargaff, Albert Emilian, Marie Frischauf-Pappenheim, Alfred Gong, Awrut Halpert, Leopold Jacobsen, Joseph Kalmer, Leo Katz, Else Keren, Joseph Kissner, Alfred Kittner, David Königsberg, Arthur Kraft, Siegmund Last, Jonas Lesser, Hugo Maier, Alfred Margul-Sperber, Karl Sebastian Markus, Selma Meerbaum-Eisinger, Ephraim Pistiner, Walther Rode, Moses Rosenkranz, Josef Norbert Rudel, Dagobert D. Runes, Isaac Schreyer, Eugenie Schwarzwald, Jacob Samuel Taubes, Benno Weiser Varon, Immanuel Weissglas, Fritz Wilder, Victor Wittner.
Das Lexikon der österreichischen Exilliteratur, verfasst von Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser in Zusammenarbeit mit Evelyn Adunka, Nina Jakl und Ulrike Oedl, ist dieser Tage im Verlag Franz Deuticke, Wien, erschienen. Es enthält neben einer Einleitung, Verzeichnissen der Pseudonyme und Namensvarianten, der Sekundärliteratur und der einschlägigen Anthologien 699 Artikel über vertriebene, verfolgte, ermordete Autorinnen und Autoren des Exils, des Widerstands und der "Inneren Emigration" auf 768 Seiten. Für dieses Lexikon war die Zeitschrift MdZ bzw. ZW ein Laboratorium, nicht nur um Fakten zusammenzutragen, sondern vor allem um im lebendigen Dialog mit den Exilierten ihre Bemühungen, Leistungen, Probleme, Anschauungen und Wünsche zu verstehen und nicht nur vom scheinbar Höheren, in Wirklichkeit national bornierten akademisch-literaturwissenschaftlichen Standpunkt zu taxieren.
Die österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts ist ohne den Beitrag derer, die in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich verboten, verfolgt, ins Exil getrieben, deportiert, in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden, nicht vorstellbar. Rose Ausländer, Hermann Broch, Elias Canetti, Joseph Roth, Hilde Spiel, Franz Werfel, Stefan Zweig, - es wird sich kaum ein international oder auch nur überregional bekannter Name eines zeitgenössischen österreichischen Autors finden, der in der NS-Zeit nicht in irgendeiner Form verfolgt worden wäre. Keines der von den Truppen Hitlerdeutschlands überrannten oder von faschistischen Diktaturen eigener Provenienz beherrschten Länder weist einen so hohen Anteil Exilierter in der Literatur auf wie Österreich.
Bekanntlich standen die österreichischen Bemühungen, den Exilierten eine Rückkehr zu ermöglichen, die Verbreitung ihrer Werke zu fördern und die Exilliteratur wissenschaftlich zu erfassen und zu ergründen, lange Zeit in einem umgekehrten Verhältnis zur literarischen Bedeutung des Exils. Dass dieses Lexikon jetzt, 55 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als Buch erscheint und versucht, die österreichische Exilliteratur in ihrer Gesamtheit darzustellen, manifestiert einen Widerstand gegen die um sich greifende Auflösung des historischen Gedächtnisses in beliebig montierbare Splitter. In der Form des Buches bleibt der geschichtliche Zusammenhang zumindest als Forderung - sowohl an die VerfasserInnen als auch an die LeserInnen - gewahrt. Das unterscheidet ein Buch allemal von einer Datenbank, aus der sich ein jeder heraussucht, was er im Moment benötigt. Nicht zu verachten ist auch der Umstand, dass in einem Buch bisher Ungekanntes und scho n Gekanntes gleichberechtigt und überschaubar nebeneinander stehen. Das Lexikon einer Literatur, die zu einem erheblichen Anteil immer noch unbekannt ist, muss schon allein daher ein Buch sein, das, so hoffen wir, in allen Bibliotheken, die diesen Namen verdienen, bald körperlich vorhanden sein wird.
Das Lexikon der österreichischen Exilliteratur schließt für uns die Forschung auf dem Gebiet der Exilliteratur nicht ab. Als eine Bestandsaufnahme zeigt es Lücken, Unsicherheiten, ungeklärte Fragen auf, die uns weiter beschäftigen werden. Bereits jetzt bitten wir alle unsere Leserinnen und Leser um Hinweise auf Fehlendes, Missverständnisse, Unklarheiten. Wir selbst beabsichtigen, dem Lexikon eine Geschichte der österreichischen Exilliteratur folgen zu lassen. Ob es dazu kommt, hängt nicht allein von uns ab. Ein wissenschaftliches Vorhaben dieses Ausmaßes lässt sich nicht aus der eigenen Tasche finanzieren.
Auf einen Gesichtspunkt ist prinzipiell immer hinzuweisen: Die Literatur des Exils ist lange nicht im erforderlichen Ausmaß erschlossen und zugänglich. Sie gehört nicht der Vergangenheit an: In Österreich selbst, in Israel, Argentinien, Uruguay, Großbritannien, in den USA und anderen Ländern leben Menschen, die einst aus dem zur Ostmark gewordenen Österreich oder aus den ehemaligen Kronländern der Habsburgermonarchie vertrieben worden sind, nicht aufgehört haben zu schreiben und die Entwicklung Österreichs mit Skepsis, Spannung, tiefer Enttäuschung und dennoch nicht versiegter Hoffnung beobachten. Ihre Situation wird in Stella Rotenbergs bekanntem Gedicht Der Dichter im Exil ausgedrückt:
Mir muss Vergessenes reichen;
Mit Verschollenem halte ich Haus.
Aus Verdämmerndem klaube ich Scherben
Von Silben zu Wörtern heraus.
Das sind noch gesegnete Tage.
Scherben sind endlicher Hort.
Wo hole ich, wenn die Verstummung kommt,
Buchstaben für mein Wort?
Schreiben aus der Erinnerung, am Rande des Verstummens, unter der Drohung des Sprachverlusts - selbst dieses bedarf der Anteilnahme, des Zuspruchs. In der solidarischen Verbundenheit mit den Exilierten suchen wir auch unsere Sprache, nehmen den Verlust der Sprache nicht hin.
Siglinde Bolbecher/Konstantin Kaiser