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Die Läden sind dürftig, keine Frage, die Cafés schäbig, die Industrie liegt danieder. Aber die lokale Permanenz privater Domizilien, öffentlicher und industrieller Institutionen bis hinunter zur Fortschreibung der Hausnummern ist mehr als augenfällig und steht dagegen. Wo vor hundert Jahren sich das ukrainische (k.k.-II.) Staatsgymnasium befand, da ist es heute im gleichen Gebäude unter ukrainischer Ägide noch und wieder. Das Narodni Dim, das Nationalhaus der Ruthenen ruht in stiller Selbstgewissheit an seinem Ort wie die ehemaligen Nationalhäuser der Deutschen, der Polen, der Rumänen und der Juden. Das einst österreichisch-kaiserliche Lehrlingsheim in der Veteranengasse ist noch immer Bauhof und Ausbildungsstätte für junge Maurer und Stuckateure. Am Austriaplatz präsentiert sich das städtische Gefängnis wie zu Zeiten der Monarchie: keinerlei bauliche Veränderung. In der Gartengasse reihen sich di e Villen wie vor hundert Jahren in ihren unaufgeräumten Gärten. Und natürlich residiert das städtische Kinderklinikum in der Bukowinska, im ehemaligen Kinderspital "Charitas", in seinem alten Gehäuse, eine Gründung übrigens Dr. Hermann Fischers, Edler von Mosara.
Wer sich nur ein wenig Mühe gibt, wird nicht selten an die große deutschsprachige Tradition dieser Stadt erinnert, eine jüdische Stadt deutscher Sprache, wie sie einmal der Celan-Biograf Israel Chalfen genannt hat und die vielleicht das war, was er guten Gewissens und sicher nicht ganz und gar grundlos als Heimstätte jüdisch-deutscher Symbiose bezeichnen durfte.
An ungezählten Stellen dieser mehr als einem dreiviertel Jahrhundert rumänischen, dann kyrillisch-sowjetisch-ukrainischen Stadt findet man Kanaldeckel mit der Aufschrift Der Stadtmagistrat Czernowitz oder Wasserwerk Czernowitz, in Hauseingängen wunderschöne Fliesenarbeiten mit dem Hinweis Wandverkleidung Leon Schrenzel Czernowitz. Noch immer führt eines der "Durchhäuser zu den Pawlatschen" in der Rathausstraße den Schriftzug Kisslinger Hof. Weder hatte man den Willen oder die Aufmerksamkeit noch die Kraft oder das Geld, hieran etwas zu ändern.
Niemand in dieser Stadt - nicht einmal die Sowjets taten dies - ist auf die Idee verfallen, am Elisabethplatz das Objekt eines vielstöckigen, stahl-gläsernen Warenhauses zu implantieren. Niemandem ist eingefallen, brutal Schneisen für einen endlosen, über alle Maßen angeschwollenen Fahrzeugstrom ins gewachsene Stadtbild zu schlagen. Nein, kein Wille dazu, keine Vorstellung davon, kein Geld. Das urbane Wesen mit dem Namen Czernowitz entkam der allgemeinen Technisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes und auf Grund unterlassener Abrissorgien und hastigen, lieblosen Wiederaufbaus anderen, uns nur allzu vertrauten Formen der Verwahrlosung seiner städtebaulichen Ordnung. Es ließ sich auch nicht einfallen, in selbst erdachten Ästhetizismen auf seine Verschönerung zu dringen. In der Herrengasse rankt noch heute Hopfen und wilder Wein an den Häuserfassaden empor, gegenüber dem Rathaus am Gebäude der Sparkasse leuchtet in Jugendstilmotiven der berühmte Majolika-Fries, und die Kastanien und Linden auf der Habsburgshöhe, im Volksgarten und auf der Göbelshöhe laden zum Verweilen ein. Man hat der Stadt ihre Ruhe gelassen, wir ahnen warum und um welchen Preis. Die Ukrainer gehen - auch wenn bisweilen unwillig - behutsam mit ihr um, und wir sollten ihnen dafür dankbar sein!
Dem literarisch-biografischen Erlebnis von Dichtung und dichtender Landschaft (Margul-Sperber), der Vergegenwärtigung der kulturellen Ursprünge und ihrer gesellschaftlichen und künstlerisch-ethnischen Einbettung, in dieser Gegend, in dieser Stadt kann man dem einen wie dem andern in unvergleichlich höherem Maße teilhaftig werden als irgendwo sonst in Mittel- oder Osteuropa, in Deutschland gar. Czernowitz ist die Antithese zur modernen Stadt ohne Eigenschaften. Wer sie an ihrer Bequemlichkeit, an der Qualität ihres Straßenbelages, an der Exklusivität ihrer Einkaufsmöglichkeiten misst, hat sich in sie verirrt.
Nein, wir haben weniger verloren, als wir glauben. Das hat nichts mit der Ernüchterung, besser, Erschütterung zu tun, die über den Besucher aus Israel kommt, der vor über fünfzig Jahren nach durchgestandenem Leid in den Lagern Transnistriens das Land verlassen hat und in unseren Tagen zurückkehrt, um sich noch einmal der Stätten seiner Kindheit, seines Hineinwachsens ins Leben und schließlich seiner Ängste und Traumata zu vergewissern. Er wird es nicht leicht haben. Er wird das Bild seiner Erinnerung mit dem des Augenblicks möglicherweise nicht zur Deckung bringen können, weil das überhaupt und immer und nicht nur an diesem Ort ein schwieriges Unterfangen ist.