Inhalt
Othmar Andree. Czernowitzer Spaziergänge. Annäherungen an die Bukowina
Broschiert. 220 Seiten. Rose Ausländer-Stiftung. Köln 2000
2. Auflage. ISBN: 3-93267-009-4.
(vergriffen)
Editorial
Dieses Konvolut von Essays, Aufsätzen und Impressionen erwuchs aus Beobachtungen und Wahrnehmungen des Autors in einer Landschaft, die als ehemalige und östlichste Provinz der Habsburgermonarchie bis heute weitgehend dem mitteleuropäischen Bewusstsein entrückt ist und erst allmählich, von Celanscher "Geschichtslosigkeit" befreit, für Tourismus, Literatur und kulturelles Schaffen zurückgewonnen werden kann. Im Spiegel historischer und literarischer Recherchen nähert sich der Autor einer "Gegend, in der Menschen und Bücher lebten", durchstreift eine Region, die trotz ihrer Probleme, mit denen sie heute zu kämpfen hat, in ihrer Vitalität, Toleranz und Vielgesichtigkeit überrascht. Othmar Andrée erzählt von der verblichenen Glorie altösterreichisch-kakanischer Gassen, vom Charme ihrer Architektur, vom eigentümlichen Zauber und der Aura einer vergessenen Bürgerlichkeit. Aus der großen goldenen Epoche der Bukowina unter Habsburgs Krone strahlt etwas wie ein matter Glanz in unsere Tage herüber, der sich über zwei Weltkriege, über Verfolgung und Vernichtung und ein halbes Jahrhundert Sowjetismus erhalten hat, der Aufmerksamkeit verdient und der ideell zu konservieren lohnt. Trotz der objektiven Schwierigkeiten, die mit einer Reise in diese Landschaft verbunden sind, ihrer geografischen Ferne, ihrer politischen und touristischen Unzugänglichkeit, ihrer historischen Entrückung, hinter der sie sich eher unfreiwillig verbirgt, sind wir aufgerufen, sie neu in Erfahrung zu bringen.
Auf ganz natürliche Weise stellen Othmar Andrées Aufsätze und Essays die Juden der Bukowina und der Kapitale Czernowitz, die einmal eine "jüdische Stadt deutscher Sprache" und "Heimstätte jüdisch-deutscher Symbiose" war, in den Vordergrund. Mit Erstaunen und Respekt nimmt er den gesellschaftlichen und kulturellen Standard zur Kenntnis, den die Bukowina bis zur Deportation und Vernichtung ihres jüdischen Bevölkerungsteils im Zuge des Zweiten Weltkriegs erreicht hatte. Dazu rechnet sich die Schaffung einer zivilen Gesellschaft, die bis zum Ersten Weltkrieg mit dem Phänomen der ethnischen Minderheiten des Landes moderat umzugehen wusste.
Othmar Andrée versucht darzulegen, dass die Juden in ihrer ethnischen und religiösen Sonderrolle, zugleich als verlässliche Anhänger des österreichischen Kaiserhauses und "Heimatlose" die Balance zwischen zwei zahlenmäßig dominierenden Ethnien wahrten, als Pivot für das Zusammenleben von Rumänen, Ukrainern (Ruthenen), Deutschen und Polen wirkten, ohne sich je als Titularnation gerieren zu können. "Czernowitz war eine recht moderne Insel in einem Meer von Rückständigkeit", umschreibt die Historikerin Mariana Hausleitner die Situation der Bukowiner Juden. Diese Menschen standen für Intelligenz und Fleiß, für künstlerische Begabung und merkantilen Geist, nicht weniger für Rechtsstaatlichkeit und verantwortliches wie zivilisiertes politisches Handeln. Sie waren die Träger des kulturellen Aufbruchs und sie taten das unter der Ägide der deutschen Sprache, auch noch während der schicksalsschweren, in die große Katastrophe mündenden rumänischen Ära. Sie haben das gar nicht sehr große Czernowitz urban geprägt und posthum zu einem Topos der Weltliteratur, die Bukowina zu einem einzigartigen, faszinierenden Geschichts- und Ideenraum werden lassen.
Bis zum heutigen Tag und über die viele Jahrzehnte währende Sowjetära hinweg haben die letzten Juden der Bukowina ihre Sprachheimat und ihre Verbundenheit mit dem altösterreichischen Erbe bewahrt und tragen ihre Hinwendung zu Humanismus, zu demokratischem, politisch-zivilem Selbstverständnis, zu mitteleuropäisch geprägtem Denken in sich.
Der Band erweist der Schönheit der Bukowina, der Vielzahl und Unversehrtheit ihrer historischen Bauten und geschichtlichen Zeugnisse, der Aufgeschlossenheit und Herzlichkeit ihrer heutigen Bewohner seine Referenz. Den einstigen Juden, deren Heimat diese Landschaft war und mit denen die Geschichte so unnachsichtig, so erbarmungslos verfuhr, hat der Autor ein Denkmal gesetzt. Uns, die wir schon lange die Verbindungen in den europäischen Osten verloren haben oder noch gar nicht gesucht, sei jene Provinz einfach ans Herz gelegt.