Czernowitz Bukowina - Wo Menschen und Bücher lebten

 

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Alles war desolat: die verregnete Stadt unter ihrer grauen Patina, der übervölkerte Bahnhofsvorplatz, die von Menschen überfüllten Bahnsteige, die Pfützen in den Straßen, Fiat-Polski-Taxen, das billige Fünftausend-Zloty-Zimmer im Bahnhofshotel mit dem nächtelangen ukrainischen Geschäftsgemurmel aus dem Nebenzimmer, der vergessene, verwahrloste jüdische Friedhof, der Schlossberg mit seinen dürren Hungerbänkchen, das Gedränge, das Geschiebe und die endlosen Schlangen am Sonderschalter für die Fahrkarten nach Czerniowce, das fossilartige der ukrainischen Eisenbahn, als habe sie die sibirische Taiga geschickt, schließlich die Ukrainer selbst – Frauen in Trainingsanzügen -, die schon äußerlich deutlich unter den Polen rangierten.

Immer hatte man das Gefühl der Diachronie, der Ungleichzeitigkeit dem Ausgangspunkt der Reise, dem Westen gegenüber. Überall traf man – nicht nur hier, in ganz Polen - auf Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszustände, ohne sich noch der augenblicklichen und tatsächlichen mitteleuropäischen Stunde, die in diesem Moment gerade geschlagen haben dürfte, bewusst zu sein. Manchmal war es, als habe deutsches Wehrmachtsmilitär, einquartiert im noch nicht ganz verblichenen Glanz des gebuchten Hotels am Bahnhof, eben noch die Tür des Nebenzimmers zugeschlagen. Das Echo hatte man noch im Ohr. Die Erscheinung deutscher Soldaten des Zweiten Weltkriegs hätte möglicherweise den Eindruck, den man von dieser und anderen polnischen Kleinstädten gewinnen konnte, eher komplettiert als gestört. Noch immer reist man im Gefühl einer nur hier, an diesem Ort und unter diesem Meridian bewahrten, rückwärts gewandten Wirklichkeit. Rzeczpospolita Polska, Sommer 1939. Karl Schlögel spricht von Treppen, die seit 1917 nicht repariert worden sind (3). Und geht man mit Helene Deutschs, der Assistentin Sigmunds Freuds, Aufzeichnungen durch Przemysl, mit ihrer „Selbstkonfrontation“(4), der Erinnerungen ihrer an diesem Ort verbrachten Jugend und erfahrenen erste Liebe, ihre tatsächliche Erscheinung, die wahre und wirkliche Begegnung mit der Autorin in Person würde gewiss nicht schockieren, nur erstaunen, überraschen, weil doch wenigstens einzuordnen, weil insgeheim erwartet; erhofft vielleicht, während ihre physische Leibhaftigkeit in unseren Breiten und im Augenblick unserer Licht- und Stahl-Glanzzeit Fremdkörper bliebe und richtungslose Erscheinung.

Dieses Gefühl, diese Stimmung, diese – im neuen Polen der Nachwendezeit allerdings mit stark abnehmender Tendenz – zu machende Erfahrung, sich zeitlich ein gutes halbes Jahrhundert zurückbewegt zu haben, verlässt einen nicht einen Moment auf der langen Reise durch Ostgalizien nach Czernowitz. Und sie wird einem auch nicht für einen Augenblick genommen, so lange man sich in der Bukowina aufhält. Dort ganz bestimmt nicht. Hieße das Ziel Kischinew oder Bukarest, zwei von der Moderne und ihren östlichen Exekutoren, Sowjetismus und Conducator, massakrierte und gezeichnete Städte, man würde sofort auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. In Bukarest etwa findet man das Baraschaeum, das ehemalige jiddische Theater - wie die letzten Reste der Altstadt überhaupt - inmitten kleiner Wüsten aus Trümmern und von Radladern eingeebneten Brachen. In Kischinew nimmt sich die einzigartige historische Bebauung, dieses sonderbar flach-ebenerdig Schtetlhafte der alten Stadt, das quadratische Karree aus wie verlorene Inseln in einem Meer moderner, vielstöckiger Allerweltskubaturen. Ob man das Haus Chaim Nachman Bialiks, des Schöpfers der „Schchite-Schtot“ und „größten Poeten der modernen hebräischen Sprache“(5), je dort finden würde, wäre den Versuch wert.

Anders die Bukowina. Hier findet man alles. Warum Czernowitz den Angriffen - nicht der Kriege, sondern den Verheerungen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts - entging, müsste erst noch geklärt werden. Und warum auch die kleinen Ortschaften davongekommen sind: ein Wunder an sich. Deshalb lohnt die Bukowina. Alles unverändert. Die Schriftsteller und Dichter dieser Provinz, ihre Bürger von einst sind momentan nicht anwesend. Diese Menschen fehlen wie unentschuldigt. Es lässt sich nicht sagen, wo sie sich aufhalten. Natürlich in ihren Büchern, in ihren Werken, in ihren Erinnerungen, in ihrer Literatur. Mit dieser sind sie unsichtbar um uns. Als ob nur vorübergehend evakuiert.

Mit der Kenntnis ihrer kulturellen Leistung und mit der Erinnerung an das Schicksal, das sie durchlebt haben, bringen wir sie, kommen sie mit uns in die Stadt zurück. Das gar nicht alte Czernowitz scheint nur darauf gewartet zu haben, sie wieder bei sich aufzunehmen. Diese Menschen gehören hierher. Mit einem Poem der Ausländer, gelesen im Flur des Hauses mit der Nummer 57 der Morariugasse, ist es, als ob die Dichterin wieder in ihr Geburthaus einzöge. Mit Dorothea Sperber-Sellas Schilderung ihrer Erkrankung im Herbst 1926, da war sie sieben und wohnte in der Russischen Gasse, oder mit ihrer kleinen Erzählung von den Ereignissen an der winzigen Bahnstation in Hliboka (Adancata) im Sommer zuvor (6), sind wir mitten im Czernowitz der Zwanziger, in der Bukowina der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Saal des Bauhandwerkervereins, Dreifaltigkeits-, Ecke Stefaniegasse, in dem 1919 die Eltern Paul Celans ihre Hochzeit feierten, hat alle Jahrzehnte des geschichtlichen und gesellschaftlichen Auf und Ab unbeschadet überstanden. Czernowitz hat uns nicht verlassen. Es ist gewiss ein schwierigeres Unterfangen, das Berlin der Nachkriegszeit, in dem etwa Gottfried Benn gelebt und gearbeitet hat, aufzuspüren – denn das ist im Zuge der rastlosen und Jahrzehnte währenden Metamorphosen dieser Stadt einer kompletten Amnesie unterworfen - als das Czernowitz der Zwanziger und Dreißiger der Rose Ausländer.

Am Bahnhof angekommen, ist man schon mitten darin. Die Atmosphäre, in die man eintaucht, ist – auch noch um Mitternacht – die eines eher überschaubaren, provinzialen Durcheinanders. Das Gefühl, verloren zu gehen, vielleicht kriminell bedroht zu sein, kommt nicht auf. Dazu ist die Stadt zu klein. Man spürt es. Empfehlenswert und keinesfalls abwegig ist - so viel Praktisches an dieser Stelle -, für den Weg zu den Gastgebern oder zum Hotel nicht den Bus zu nehmen. Der Trolley erfordert eine gute Orientierung und kann die Unannehmlichkeit eines längeren Fußmarschs bergen. Man sollte Mut fassen und eine der auf dem Bahnhofsvorplatz umherstehenden Personen ansprechen – davon gibt es auch um Mitternacht reichlich - und sich nach dem Weg erkundigen. Eine bedachtsam und höflich vorgetragene Bitte, chauffiert zu werden, wird mit Sicherheit nicht abgeschlagen.

Schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist die Erkundung der Stadt ohne einen tüchtigen Stadtplan. Über den besten von allen verfügt das Kriegsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs. Er erschien 1912 im Verlag Leon König, Czernowitz, und wurde vom Ingenieur Ludwig West verfasst. Auf ihm findet man nicht nur die so genannten neuen, weil um die Jahrhundertwende aktualisierten Straßenbenennungen, sondern auch Höhenzahlen, Flurstücke und detaillierte Liegenschaften. Das ist nicht unwichtig für einen dezidiert topografischen wie literarischen Einstieg in die Stadtgeschichte. Dazu verfügt der Plan über ein ausführliches Straßenverzeichnis, und er liefert Nachweise und Suchhilfen für Kasernen, Spitäler, Unterrichtsanstalten und Behörden. Auch die meisten Hausnummern sind darauf verzeichnet. Das Geburtshaus Paul Celans, die Nummer fünf der Wassilkogasse allerdings wird man darin vergeblich suchen. Das Haus war 1912 noch nicht errichtet. Auch fehlen Gassen im historischen Stadtkern, zum Beispiel die wulicja Clara Zetkin, in der bis vor kurzem noch die über dreiundneunzigjährige letzte Czernowitzerin mit deutscher Muttersprache, Rosa Roth-Zuckermann lebte, und man sucht vergeblich die Gassen zwischen der Neuweltgasse und der Bräuhausgasse, die zum einstigen Ghetto gehörten, das hier nach dem Einmarsch der Rumänen und Deutschen 1941 eingerichtet worden war. Auch sie sind Schöpfungen der Rumänenzeit.

Ohne die in der Stadthistorie eingespielten deutschen Straßenbenennungen wird die topografische und kulturhistorische Orientierung ohnehin schwierig. Flaniermeile – dies nur ein Beispiel - ist heute die Kobyljanskastraße, ukrainisch wulicja Ol’rsquo;gi Kobyljans’rsquo;koji, rumänisch Strada Iancu Flondor, ein Fußgängerparadies, flankiert von Häuserzeilen, an denen unverändert Hopfen und wilder Wein empor ranken. Aber wer sich mit dem literarischen Czernowitz vertraut machen will, kann wohl mit dem Namen der ukrainischen Dichterin, mit einer Straße dieses Namens literaturgeschichtlich erst einmal wenig anfangen.
 


(3) Karl Schlögel. Die Wiederkehr des Raumes. Die Konkretwerdung der Welt nach dem Verschwinden der Systeme. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Bilder und Zeiten. 19.06.1999
(4) Helene Deutsch. Selbstkonfrontation. München 1975
(5) Chaim Nachman Bialik. In der Stadt des Schlachtens. In schchite-schtot. In der Übersetzung von Richard Chaim Schneider, Nachwort. Salzburg 1990
(6) Dorothea Sella. Der Ring des Prometheus. Denksteine im Herzen. Eine auf Wahrheit beruhende Romantrilogie. Stawropol. Tbilissi. Czernowitz. Jerusalem 1996

 


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