Czernowitz Bukowina - Wo Menschen und Bücher lebten

 

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Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs waren „die Straßentafeln dreisprachig: Rumänisch, Deutsch, Ruthenisch“(7). In der Ära der Rumänen ab 1918 wurden sämtliche Benennungen rumänisiert und viele alte Straßennamen durch Benennungen ersetzt, die Bezug auf die rumänische Geschichte, Kultur und aktuelle Politik nahmen. Eine der wichtigsten Karten aus dieser Zeit war der „planul municipiului Cernauti“ in der Ausgabe Leon König. Er erschien in mehreren Auflagen in den Zwanzigern und Dreißigern. Er war zudem Grundlage einer nicht uninteressanten, zugleich suspekten Fassung, die 1941 in Berlin durch das Reichsamt für Landesaufnahme angefertigt wurde. Diese Ausgabe diente als Anlage zur „Militärgeographischen Übersicht über das Europäische Russland“ Dienststellen der Deutschen Wehrmacht und ihren Hilfstruppen bei ihrem mörderischen Handwerk.

BildEin Geschäft für Landmaschinen
in der Enzenberg Hauptstrasse


1981 gaben die sowjetischen Behörden der Cernovickaja oblast, des Czernowitzer Gebiets, einen Stadtplan heraus, der hauptsächlich touristische Bedürfnisse zu befriedigen hatte. Erstaunlich, wie gefällig er sich darauf einstellt. Tankstellen sind darin verzeichnet, ebenso Museen, Badeanstalten und Cafés. Eine heitere, eine unbeschwerte Welt. Selbstverständlich findet man dort alle Trolleybuslinien, Sportstätten und Parks, natürlich auch den Kalininpark, den wir nur unter seinem Namen Volksgarten kennen. Heute ist dieses Kartenwerk vollkommen ins Episodische verdrängt, obwohl es vielen Czernowitzern einmal für die ganze Wahrheit stand. Und längst sind die dilettantisch und oft handgezeichneten Pläne aus den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit der Ukraine professionellen Produkten gewichen. Heute, im Herbst 2002, ist es absolut nicht schwierig, für ein paar Griwny in den Besitz eines der neuesten Stadtpläne zu gelangen und sich topografisch auf das Sprachterrain des Ukrainischen zu begeben.

Aus den Schwierigkeiten der Orientierung in der Stadt und in der Bukowina insgesamt rettet uns in diesem Herbst vielleicht der „Illustrierte Führer durch die Bukowina“. Er zeichnet sich, wie er hübsch selbstwerbend vermerkt, durch eine „hohe stilistische und sprachliche Qualität“(8) aus. Herausgegeben von Hermann Mittelmann, erschien er 1907 erstmalig in Czernowitz, ein Band, der jetzt in einem vorzüglichen Reprint vorliegt. Als Zugabe erhält man mit dem Buch den „Plan von Czernowitz mit Angabe der neuen Straßenbenennung. Nach amtlichen Aufzeichnungen zusammengestellt vom städtischen Baubeamten Leon Kreiner“.

Mit der deutschen Sprache und dieser schon so lange versunkenen Stadt am Pruth weit im Westen der heutigen Ukraine und ebenso weit im Osten unserer Vorstellungen vom europäischen Kulturkreis und dieser seiner fernen Provinz hat es ja seine besondere Bewandtnis. Ohne das Erbe dieser Sprache wäre der Rang, den die Existenz der Stadt im kulturhistorischen Gedächtnis Mitteleuropas, namentlich im deutschen Sprachraum und fernerhin innerhalb eines winzigen und unablässig schwindenden Teils der israelischen Bevölkerung und der jüdischen Diaspora einnimmt, ein völlig anderer. Wenn schon in den genannten Denk- und Sprachräumen und mit zunehmender Tendenz ein evidentes Interesse für die Stadt und diese Gegend bescheinigt werden kann, wird es nicht gleichgültig sein, welches Idiom es war, das als Umgangs-, Amts- und Verkehrssprache und obendrein lingua franca für den europäischen Osten galt, auch nicht die Tatsache, dass hier zwar eine ganze Familie von Sprachen existierte, deren Mitglieder nebeneinander und parallel im Gebrauch waren, dem Deutschen aber die präferierende Rolle zufiel. Wenn wir außerdem einräumen, dass eine regional- und lokalspezifische Identitätsfindung der Menschen nicht zwingend, aber doch vornehmlich über die Sprache geleistet wird, sich das Bedürfnis nach kultureller und sprachlicher Zugehörigkeit und Standortbestimmung hier – aus welchen Gründen auch immer - am Deutschen festgemacht hat, wird unser spätes Interesse an diesem Ort durchaus begreiflich. Deutsch konnten sie alle, die Bürger der Bukowina, vor allem die Juden. Und, nicht selten eine geradezu bestürzende Tatsache, die wenigen, sie können es noch immer.

Dieser Befund reicht ein gutes Stück über die Einsicht hinaus, dass Czernowitz und die Bukowina als Paradigma für das friedliche, zivilisierte und weitgehend nach rechtsstaatlichen Überzeugungen organisierte Zusammenleben verschiedener Völker mit verschiedenen Sprachen unter verschiedenen Glaubensbekenntnissen auf überschaubarem Raum (die Provinz war nicht viele größer als das heutige Saarland) haben gelten dürfen.

Er ist in Wahrheit – zumindest in Richtung auf unser Interesse und Engagement - viel virulenter als alle theoretischen Ansätze zum Wesen der Multikulturalität, die wohl ein allgemeines, supralinguales und politisch-kulturgesellschaftliches Interesse für diese oder irgendeine andere Landschaft der Welt legitimieren(9), emotionale Nähe und innere Verbundenheit dem Speziellen, dem Besonderen, dem qua Schicksal angeeigneten geografischen Raum gegenüber aber weder herstellen und fördern noch tragen oder dafür eine Erklärung liefern wollen. Mit diesen Ansätzen sollte man auf der Hut sein, damit man die Geschichte der Bukowina und das Anliegen dieses Geschichtsraums nicht in ein wertfreies Wissenschaftsgeflecht verortet und zugleich verkennt, dass diese Dinge gelegentlich – poetisch formuliert – auch als eine an uns gerichtete „Flaschenpost“ verstanden werden können, die „irgendwo und irgendwann an Land gespült wird, an Herzland vielleicht“(10).

Andererseits stützt der genannte Befund einen Sprachpatriotismus, der nicht erst heute hinterfragt werden muss und sich vor allem hart am Phänomen stößt, dass gerade die Juden der Bukowina sich des Deutschen befleißigt haben und dass es der Klärung bedarf, welches die Bedingungen für diese doch recht merkwürdige, ja einmalige Konstellation waren und warum sie schließlich zertrümmert wurden. Israel Chalfen, Celan-Biograf und Mitschüler von Paul Celan spricht von einer „Landschaft, die anderthalb Jahrhunderte eine Heimstätte jüdisch-deutscher Symbiose“ gewesen war und von „Czernowitz als einer jüdischen Stadt deutscher Sprache“(11).

Was über das einfache Bedürfnis hinausweist, sich in diesen Tagen auf einer Reise durch die Bukowina mit den Menschen vor Ort verständigen zu können, was hier leicht dahingesagt der Bequemlichkeit dienen mag und vielleicht den Anschein von kolonialer Anmaßung und Arroganz trägt, stößt die Tür auf und ist nichts weniger als das Entréebillet zur Besichtigung eines geschichtlich gesehen recht exotischen, nicht minder flüchtigen Gebildes. Für den Zugang zu einem großen Teil der Literatur zur Landeskunde, zur Literatur als künstlerische Kategorie und zur praktischen und gesellschaftswissenschaftlichen Publizistik der Bukowina ist es sogar unabdingbar, bildet einen unentbehrlichen Schlüssel für Wissenschaft und Forschung. Die gemeinsam gesprochene Sprache – unsere heutige und die des alten Czernowitz – ist das Vehikel zu einem originären, subtilen, historischen unerlässlichen Zugang für das Verständnis der inneren Verhältnisse und geistigen Verfassung einer ukrainisch-ruthenischen, rumänischen, polnischen, jüdischen, deutschen, letztlich also multiethnischen Landschaft östlich der Karpaten, der uns sonst verwehrt bliebe; oder auf Dauer der Gleichgültigkeit preisgegeben.

Mit dem Deutschen erschließt sich – dies nur ein Beispiel dafür, welchen Tiefgang diese Fragestellung entwickeln kann – mit dem Deutschen erschließt sich ein Teil der griechisch-orthodoxen Fachliteratur zu Fragen und Problemstellungen der Theologie und zur klerikalen Glaubenspraxis der europäischen, also auch bukowinischen Ostkirche in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Hier sei an die Lehrstühle der griechisch-orthodoxen theologischen Fakultät der Czernowitzer Universität erinnert, deren Arbeiten, Publikationen und Vorlesungen in deutscher Sprache erschienen(12), ebenso – ein weiteres Beispiel - an die Interna innerjüdischer Konflikte. Der Streit um die Zukunft des Judentums in der Bukowina, zwischen jüdischer Orthodoxie, Haskalah und Assimilation, zwischen patriotisch-loyal, zionistisch und sozialdemokratisch-bundistisch-jiddisch geschah kulturell auf einem Sprachfeld, das weit über die Bukowina hinausreichte und für dessen Bestellung maßgeblich die Wiener Administration verantwortlich zeichnete.
 


(7) Hermann Sternberg. Zur Geschichte der Juden in Czernowitz. Tel Aviv. 1962
(8) Hermann Mittelmann. Illustrierter Führer durch die Bukowina. Czernowitz 1907/1908. Reprint. Neu herausgegeben von Helmut Kusdat. Wien 2001
(9) Czernowitz as Paradigm. Internationales Symposion, Tel Aviv. 1999

(10) Paul Celan. Der Meridian und andere Prosa. Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen 1958. Frankfurt am Main 1983
(11) Israel Chalfen. Paul Celan. Eine Biografie seiner Jugend. Frankfurt am Main 1979
(12) Rudolf Wagner. Vom Halbmond zum Doppeladler. Ausgewählte Beiträge zur Geschichte der Bukowina und der Czernowitzer Universität „Francisco-Josephina“. Augsburg 1996


 


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