Inhalt
Eher – das allerdings nur eine, wenn auch angesichts der erschütternden Entwicklung der europäischen, vor allem westdeutschen Städte während der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts nicht ganz unbegründete Befürchtung – eher wird aus der Ecke der Sanierung und vom Standpunkt überzogener Fürsorge zum Sturm auf die Stadt geblasen; etwa mit der aus dem Zauberhut plötzlichen Wohlstands gezogenen Lüsternheit, ganze Stadtviertel erst der Fäulnis anzutragen, dann niederzumachen und zuletzt nach neuen Vorgaben, jetzt aber in Windeseile, lieblos und unter neuen ästhetischen Parametern wieder hinzustellen; oder mit dem starken Willen, das ganze gebrechliche und gut zwei Jahrhunderte alte urbane Gebilde an allen Ecken und Enden zu zertümmern und sich dann technokratisch zu unterordnen. Eher wird die nicht zu bändigende Neigung an der willkürlichen Überformung und beliebigen Erneuerung, der Glauben an Segen und Macht der Machbarkeit der Stadt, von der hier die Rede ist, ein für alle Mal das Licht ausblasen, als dass sie an ihrer eigenen Altersschwäche zugrunde ginge.
Denn eigentlich ist nicht wahr, „dass man“ – wie kürzlich im Feuilleton einer großen deutschen Tageszeitung zu lesen war, „dass man ... in eine durch Jahrzehnte zerstörte ... Stadtlandschaft hinaussieht“ (es ist die Rede von den neuerlich zu entdeckenden Städten Osteuropas im Allgemeinen und Odessa im Besonderen)(18). Einzig in seiner Umkehrung, will scheinen, gilt dieses Verdikt: Man schaut dank allgemeiner Kraftlosigkeit auf durch Jahrzehnte bewahrte Stadtlandschaften hinaus, und das an ungezählten Orten im europäischen Osten. In Czernowitz allemal. Der Sozialismus als Großkonservator ohne Absicht, haben wir das vergessen?
Zweifel also hält die Zukunft bereit, Ängste; denn die Zeit wird richten und die Sterblichkeit des Materials sich unbarmherzig zu Wort melden. Zu groß, Czernowitz als Museum zu bewahren, als Königsschloss und Residenz des Bürgertums scheint es doch unrettbar verloren. Der Traum von der Unantastbarkeit des urbanen Organismus als einem Gebilde voller Gleichgewicht, voll Ordnung und Ruhe, als Paradigma für die einmalige und nur hier gelungenen Balance zwischen dem Artifiziellen, das sind Stuck, Ornament und Baustruktur, und dem Tellurischen, das sind irdene Klinker, Stein und kakanisches Ocker vom Kalkputz, dieser Traum wird auf Dauer nicht erfüllbar sein. Mit der wirtschaftlichen Konsolidierung des Landes, die, wie gesagt, eines nicht allzu fernen Tages ohnehin ins Haus steht, unumgänglich ist, wird hier die neue Zeit einziehen. Man wird zu Gericht sitzen über das habsburgische Wunder am Pruth und zwar im städtischen Bauausschuss und nicht einmal hinter verschlossenen Türen. Jedoch werden Adolf Marin und Andreas Mikulicz, die Architekten des Czernowitzer Rathauses, darin nicht vertreten sein. Der neue Geist, der dann in den Gassen einzieht, das gewandelte ästhetische Bewusstsein wird auf sein Recht pochen und mit seiner ganzen Grobschlächtigkeit, mit Nervosität und ziemlich unduldsam Einzug halten in der Stadt. Man wird sich Glaspyramiden errichten wollen, solitäre, absolute, nur sich selbst verpflichtete und bizarre Monumente der Eitelkeit und natürlich die üblichen, nur allzu bekannten Kartonagen, Gebrauchsbehältnisse aus den Katalogen der Denkmuster einer anderen Zeithemisphäre, deren Ästhetik mit der des 19. Jahrhunderts leider nicht kommensurabel ist. Wo nicht abstrakte, klügelnde Architektur der Stadt eifersüchtelnd auf den Leib rückt, ihr bis aufs Messer den Kampf ansagt, wird die Invasion des Mittelmäßigen wie des Technoiden, wird das zerrüttete Verhältnis zum Handwerklichen, das protegierte soziale Herunterkommenlassen ganzer Quartiere dies alles hier roh und unbarmherzig zertrümmern. Man wird staunen, wie schnell die Stadt ihr Gesicht verliert und zu einer Belanglosigkeit herabsinkt.
Noch aber lebt man in moderatem Einvernehmen mit diesem Wesen, sind die Wunden, die man ihm geschlagen hat, klein und heilbar, wenigstens unauffällig. Und ein paar Jahre Zeit würden in jedem Fall bleiben. Bei aller Arroganz, die dieser Sichtweise, dieser Perspektive eignet, allem Zynismus, das sei an dieser Stelle reklamiert, gibt es auch das, was man leicht mit der Furcht vor dem finalen Untergang dieses heute noch in völlig intaktem Zustand befindliche städtebaulich Ganzen umschreiben könnte.
Die Stadt also ein bedrohtes Gesamtkunstwerk, darum geht’rsquo;s. Hier dominiert nicht das Zusammengewürfelte, hier geht nichts durcheinander wie Kraut und Rüben. Es ist das Disklomerate, vulgo: Ästhetik, eine Form von Harmonie, die das Bild der Stadt prägt, eine Gesamtheit, die nicht die Einzelobjekte im Blick hat, sondern den Chor aller, ihr Konzert. Und es geht hier nicht um die Idylle. Dies beileibe nicht! Da sei nichts zu verwechseln! Alles Unwahre und Museale sind in Wirklichkeit fern. Die Stadt wird bewohnt, ist autentisch und bei aller sklerotischen Hinfälligkeit und Blutarmut doch ein pulsierender Organismus.
Noch einmal: Czernowitz, ein altes, aber lebendiges Kunstwerk. Ein Beleg. Und: Hier fault nichts. Das eine gilt wie das andere. Es ist das kunsthistorisch bedeutende, komplette, intakte und zugleich durchblutete Wesen, das Unabgehobene per se, auf das es ankommt und auf das man hier stößt. Das ist es, was die Stadt im Gegensatz zu mitteleuropäischen Städten zu bieten hat. Verfall und Niedergang, das allgegenwärtige Bröckeln als verzeihliche Schlamperei, als Offenbarung des momentanen Geldmangels und der wirtschaftlichen Unfähigkeit und die aller Orten zu Tage tretende Hilflosigkeit gegenüber den allgemeinen kommunalen Verpflichtungen erscheinen dagegen erst einmal zweitrangig.
Wirklich bedroht und dem Untergang geweiht sind in diesen Tagen nur die Synagogen, die Schiln, die Bethäuser, die Bothe Midroschim wie das der Chewra Tillim in der Synagogengasse, das des Machsike Schabbeß einige Häuser weiter oder das ehemalige Israelitische Spital. Es sind dies Gebäude, die nicht genutzt werden. Sie verfallen seit Jahren, sichtbar, störend und mit stummem Schrei. Unentwegt lösen sie sich in ihre Bestandteile auf und sind damit noch lange nicht zu Ende. Zu schwer haben sie all die Jahre an ihrer Funktions- und Nutzlosigkeit zu leiden, dem Stigma der Unberührbarkeit und dem Verlassensein zu tragen gehabt, als dass sie noch den Atem für eine Zukunft hätten, die jenseits ihres eigenen Untergangs angesiedelt ist. Manchmal kann man nur staunen, in welch kurzer Zeit sich ein Gebäude im Häusermeer verliert, verabschiedet, dem man seine Liebe und Zuwendung entzogen und das bisschen Fürsorge vorenthalten hat, das es zum Erhalt seiner Existenz unabdingbar benötigt. Das gilt entsprechend auch für die beiden alten Friedhöfe der Stadt, den christlichen wie den jüdischen. Während dieser den Gefahren der bedenkenlosen Überformung, die hier in Form der Weiternutzung besteht, ausgeliefert ist, leidet jener in immer kürzeren Abständen unter barbarischen Zugriffen, bestehend aus Vandalismus und unsensibler kommunaler Pflege.
Deswegen drängt die Zeit. Deswegen sollten man sich lieber heute als morgen auf den Weg machen! Deswegen gilt der Vorwurf, die Stadtregierung habe versäumt, ihre und die Behausungen ihrer Bürger, das ganze pittoreske Gebilde, ernst zu nehmen und meinetwegen unter die Fittiche eines UNESCO-Weltkulturerbes stellen zu lassen. Die Bürgerstadt des neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigstens Jahrhunderts, für einige Jahrzehnte die Heimstatt für „eine recht moderne Insel in einem Meer von Rückständigkeit“ , wie es die Historikerin Mariana Hausleitner kürzlich umschrieben hat, dieser Ort, mit Liebe und Sorgfalt errichtet und gepflegt, unter der Totale einer längst verblichenen Ideologie, wenn nicht geliebt, so doch wenigstens nicht massakriert, eher vergessen, eher gleichgültig hingenommen als durch panmoderne Ideen ästhetisch belästigt, ruft nach Schutz und Hilfe.
In der Herrengasse rankt noch immer der Wein an den Fassaden empor. Gegenüber dem Rathaus am Gebäude der Sparkasse leuchtet in Jugendstilmotiven der beeindruckende Majolika-Fries, und die Kastanien und Linden auf der Habsburgshöhe, im Volksgarten und auf der Göbelshöhe laden zum Verweilen ein. Man hat der Stadt ihre Ruhe gelassen, man weiß, warum und um welchen Preis. Die Ukrainer gehen - auch wenn nicht selten unwillig - behutsam mit ihr um. Man sollte ihnen dafür dankbar sein!
Dem literarisch-biographischen Erlebnis von „Dichtung und dichtender Landschaft“ (Margul-Sperber), der Vergegenwärtigung der kulturellen Ursprünge und ihrer gesellschaftlichen und künstlerisch-ethnischen Einbettung, in dieser „Gegend“, in dieser Stadt kann man dem einen wie dem andern in unvergleichlich höherem Maße teilhaftig werden als irgendwo sonst in Mitteleuropa, in Deutschland gar. Czernowitz ist die Antithese zur modernen „Stadt ohne Eigenschaften“. Wer sie an ihrer Bequemlichkeit, an der Qualität ihres Straßenbelages misst, am Komfort ihrer Einkaufsmöglichkeiten, hat sich wahrscheinlich in sie verirrt.
Bei Licht besehen ist weniger verloren, als man glauben könnte. Das hat nichts mit der Ernüchterung, nein, Erschütterung zu tun, die über den Besucher aus Israel kommt, der vor über fünfzig Jahren nach durchgestandenem Leid in den Lagern Transnistriens das Land verlassen musste und in unseren Tagen zurückkehrt, um sich noch einmal der Stätten seiner Kindheit, seines Hineinwachsens ins Leben und schließlich seiner Ängste und Traumata zu vergewissern. Er wird es nicht leicht haben. Er wird das Bild seiner Erinnerung mit dem des Augenblicks möglicherweise nicht zur Deckung bringen können, weil das überhaupt und immer und nicht nur an diesem Ort ein schwieriges Unterfangen ist.
Denn eigentlich ist nicht wahr, „dass man“ – wie kürzlich im Feuilleton einer großen deutschen Tageszeitung zu lesen war, „dass man ... in eine durch Jahrzehnte zerstörte ... Stadtlandschaft hinaussieht“ (es ist die Rede von den neuerlich zu entdeckenden Städten Osteuropas im Allgemeinen und Odessa im Besonderen)(18). Einzig in seiner Umkehrung, will scheinen, gilt dieses Verdikt: Man schaut dank allgemeiner Kraftlosigkeit auf durch Jahrzehnte bewahrte Stadtlandschaften hinaus, und das an ungezählten Orten im europäischen Osten. In Czernowitz allemal. Der Sozialismus als Großkonservator ohne Absicht, haben wir das vergessen?
Zweifel also hält die Zukunft bereit, Ängste; denn die Zeit wird richten und die Sterblichkeit des Materials sich unbarmherzig zu Wort melden. Zu groß, Czernowitz als Museum zu bewahren, als Königsschloss und Residenz des Bürgertums scheint es doch unrettbar verloren. Der Traum von der Unantastbarkeit des urbanen Organismus als einem Gebilde voller Gleichgewicht, voll Ordnung und Ruhe, als Paradigma für die einmalige und nur hier gelungenen Balance zwischen dem Artifiziellen, das sind Stuck, Ornament und Baustruktur, und dem Tellurischen, das sind irdene Klinker, Stein und kakanisches Ocker vom Kalkputz, dieser Traum wird auf Dauer nicht erfüllbar sein. Mit der wirtschaftlichen Konsolidierung des Landes, die, wie gesagt, eines nicht allzu fernen Tages ohnehin ins Haus steht, unumgänglich ist, wird hier die neue Zeit einziehen. Man wird zu Gericht sitzen über das habsburgische Wunder am Pruth und zwar im städtischen Bauausschuss und nicht einmal hinter verschlossenen Türen. Jedoch werden Adolf Marin und Andreas Mikulicz, die Architekten des Czernowitzer Rathauses, darin nicht vertreten sein. Der neue Geist, der dann in den Gassen einzieht, das gewandelte ästhetische Bewusstsein wird auf sein Recht pochen und mit seiner ganzen Grobschlächtigkeit, mit Nervosität und ziemlich unduldsam Einzug halten in der Stadt. Man wird sich Glaspyramiden errichten wollen, solitäre, absolute, nur sich selbst verpflichtete und bizarre Monumente der Eitelkeit und natürlich die üblichen, nur allzu bekannten Kartonagen, Gebrauchsbehältnisse aus den Katalogen der Denkmuster einer anderen Zeithemisphäre, deren Ästhetik mit der des 19. Jahrhunderts leider nicht kommensurabel ist. Wo nicht abstrakte, klügelnde Architektur der Stadt eifersüchtelnd auf den Leib rückt, ihr bis aufs Messer den Kampf ansagt, wird die Invasion des Mittelmäßigen wie des Technoiden, wird das zerrüttete Verhältnis zum Handwerklichen, das protegierte soziale Herunterkommenlassen ganzer Quartiere dies alles hier roh und unbarmherzig zertrümmern. Man wird staunen, wie schnell die Stadt ihr Gesicht verliert und zu einer Belanglosigkeit herabsinkt.
Noch aber lebt man in moderatem Einvernehmen mit diesem Wesen, sind die Wunden, die man ihm geschlagen hat, klein und heilbar, wenigstens unauffällig. Und ein paar Jahre Zeit würden in jedem Fall bleiben. Bei aller Arroganz, die dieser Sichtweise, dieser Perspektive eignet, allem Zynismus, das sei an dieser Stelle reklamiert, gibt es auch das, was man leicht mit der Furcht vor dem finalen Untergang dieses heute noch in völlig intaktem Zustand befindliche städtebaulich Ganzen umschreiben könnte.
Die Stadt also ein bedrohtes Gesamtkunstwerk, darum geht’rsquo;s. Hier dominiert nicht das Zusammengewürfelte, hier geht nichts durcheinander wie Kraut und Rüben. Es ist das Disklomerate, vulgo: Ästhetik, eine Form von Harmonie, die das Bild der Stadt prägt, eine Gesamtheit, die nicht die Einzelobjekte im Blick hat, sondern den Chor aller, ihr Konzert. Und es geht hier nicht um die Idylle. Dies beileibe nicht! Da sei nichts zu verwechseln! Alles Unwahre und Museale sind in Wirklichkeit fern. Die Stadt wird bewohnt, ist autentisch und bei aller sklerotischen Hinfälligkeit und Blutarmut doch ein pulsierender Organismus.
Noch einmal: Czernowitz, ein altes, aber lebendiges Kunstwerk. Ein Beleg. Und: Hier fault nichts. Das eine gilt wie das andere. Es ist das kunsthistorisch bedeutende, komplette, intakte und zugleich durchblutete Wesen, das Unabgehobene per se, auf das es ankommt und auf das man hier stößt. Das ist es, was die Stadt im Gegensatz zu mitteleuropäischen Städten zu bieten hat. Verfall und Niedergang, das allgegenwärtige Bröckeln als verzeihliche Schlamperei, als Offenbarung des momentanen Geldmangels und der wirtschaftlichen Unfähigkeit und die aller Orten zu Tage tretende Hilflosigkeit gegenüber den allgemeinen kommunalen Verpflichtungen erscheinen dagegen erst einmal zweitrangig.
Wirklich bedroht und dem Untergang geweiht sind in diesen Tagen nur die Synagogen, die Schiln, die Bethäuser, die Bothe Midroschim wie das der Chewra Tillim in der Synagogengasse, das des Machsike Schabbeß einige Häuser weiter oder das ehemalige Israelitische Spital. Es sind dies Gebäude, die nicht genutzt werden. Sie verfallen seit Jahren, sichtbar, störend und mit stummem Schrei. Unentwegt lösen sie sich in ihre Bestandteile auf und sind damit noch lange nicht zu Ende. Zu schwer haben sie all die Jahre an ihrer Funktions- und Nutzlosigkeit zu leiden, dem Stigma der Unberührbarkeit und dem Verlassensein zu tragen gehabt, als dass sie noch den Atem für eine Zukunft hätten, die jenseits ihres eigenen Untergangs angesiedelt ist. Manchmal kann man nur staunen, in welch kurzer Zeit sich ein Gebäude im Häusermeer verliert, verabschiedet, dem man seine Liebe und Zuwendung entzogen und das bisschen Fürsorge vorenthalten hat, das es zum Erhalt seiner Existenz unabdingbar benötigt. Das gilt entsprechend auch für die beiden alten Friedhöfe der Stadt, den christlichen wie den jüdischen. Während dieser den Gefahren der bedenkenlosen Überformung, die hier in Form der Weiternutzung besteht, ausgeliefert ist, leidet jener in immer kürzeren Abständen unter barbarischen Zugriffen, bestehend aus Vandalismus und unsensibler kommunaler Pflege.
Deswegen drängt die Zeit. Deswegen sollten man sich lieber heute als morgen auf den Weg machen! Deswegen gilt der Vorwurf, die Stadtregierung habe versäumt, ihre und die Behausungen ihrer Bürger, das ganze pittoreske Gebilde, ernst zu nehmen und meinetwegen unter die Fittiche eines UNESCO-Weltkulturerbes stellen zu lassen. Die Bürgerstadt des neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigstens Jahrhunderts, für einige Jahrzehnte die Heimstatt für „eine recht moderne Insel in einem Meer von Rückständigkeit“ , wie es die Historikerin Mariana Hausleitner kürzlich umschrieben hat, dieser Ort, mit Liebe und Sorgfalt errichtet und gepflegt, unter der Totale einer längst verblichenen Ideologie, wenn nicht geliebt, so doch wenigstens nicht massakriert, eher vergessen, eher gleichgültig hingenommen als durch panmoderne Ideen ästhetisch belästigt, ruft nach Schutz und Hilfe.
In der Herrengasse rankt noch immer der Wein an den Fassaden empor. Gegenüber dem Rathaus am Gebäude der Sparkasse leuchtet in Jugendstilmotiven der beeindruckende Majolika-Fries, und die Kastanien und Linden auf der Habsburgshöhe, im Volksgarten und auf der Göbelshöhe laden zum Verweilen ein. Man hat der Stadt ihre Ruhe gelassen, man weiß, warum und um welchen Preis. Die Ukrainer gehen - auch wenn nicht selten unwillig - behutsam mit ihr um. Man sollte ihnen dafür dankbar sein!
Dem literarisch-biographischen Erlebnis von „Dichtung und dichtender Landschaft“ (Margul-Sperber), der Vergegenwärtigung der kulturellen Ursprünge und ihrer gesellschaftlichen und künstlerisch-ethnischen Einbettung, in dieser „Gegend“, in dieser Stadt kann man dem einen wie dem andern in unvergleichlich höherem Maße teilhaftig werden als irgendwo sonst in Mitteleuropa, in Deutschland gar. Czernowitz ist die Antithese zur modernen „Stadt ohne Eigenschaften“. Wer sie an ihrer Bequemlichkeit, an der Qualität ihres Straßenbelages misst, am Komfort ihrer Einkaufsmöglichkeiten, hat sich wahrscheinlich in sie verirrt.
Bei Licht besehen ist weniger verloren, als man glauben könnte. Das hat nichts mit der Ernüchterung, nein, Erschütterung zu tun, die über den Besucher aus Israel kommt, der vor über fünfzig Jahren nach durchgestandenem Leid in den Lagern Transnistriens das Land verlassen musste und in unseren Tagen zurückkehrt, um sich noch einmal der Stätten seiner Kindheit, seines Hineinwachsens ins Leben und schließlich seiner Ängste und Traumata zu vergewissern. Er wird es nicht leicht haben. Er wird das Bild seiner Erinnerung mit dem des Augenblicks möglicherweise nicht zur Deckung bringen können, weil das überhaupt und immer und nicht nur an diesem Ort ein schwieriges Unterfangen ist.
(18) Stephan Wackwitz. Professor Schlögel, we presume? Der Livingstone des Wilden Ostens versammelt seine Reisefrüchte. Frankfurter Allgemeine Zei-tung, 20.11.2001