Inhalt
Was den Menschen, den Juden vor allem, geschah, welches Maß an Leid über sie kam, das wird man als Spätgeborener auf Spaziergängen durch die Stadt und auf Exkursionen durch das Land so ohne weiteres nicht erkennen. Die kleinen Zeichen, die manches verraten, kann man nur allzu oft nicht richtig deuten. Es ist eine Geschichte für sich, von der man sich nur immer wieder berichten lassen muss und über die man zu lesen hat. Sie legt das Studium der Quellen mit großer Dringlichkeit ans Herz: die Deportationsberichte und Lebenszeugnisse, nicht weniger die einzigartige Literatur dieser Landschaft.
Aber man kann die Straßen und Grenzen des einstigen Czernowitzer jüdischen Ghettos abschreiten, ohne auf Fotos und historisch-karthografische Prothesen angewiesen zu sein. Und es ist nur eine Frage von Geschick und Gespür, den Betrieb ausfindig zu machen, in dem sich ein Paul Celan vor seinen Verfolgern versteckte, während man seine Eltern verhaftete und deportierte; das Haus zu erkennen, in dem sich Rose Ausländer gemeinsam mit ihrer Mutter in schwerer Zeit verborgen hielt: denn beides steht noch. Die Stadt, sie ist noch da. Die große Synagoge in Wiznitz gibt es noch. Die Residenz der Friedmanns in Sadagora, das Wohnhaus der chassidischen Zaddikim, die Schul und die Klaus dort, sie existieren!
Der Pruth fließt, seine Kiesbänke leuchten. Das Land ist grün und frei. Die jüdischen Friedhöfe draußen in den Feldern und an den Wegrainen spinnen sich hinter Gebüsch und Hecken für die Ewigkeit ein. Klapprige Autobusse verkehren wie in den frühen Dreißigern und bringen die Menschen nach Berhomet und Bojan, nach Hliboka und Novosielitza. Die Menschen sind freundlich und herzlich. Man achtet das jüdische Erbe nach Maßgabe der wirtschaftlichen Möglichkeiten und der finanziellen Leistungskraft des Landes, auch gegen Gleichgültigkeit und dumpfe Umtriebe, von denen die Ukraine nicht frei ist. Die Bukowina ist aus einem halbhundertjährigen Dornröschenschlaf erwacht, wenn auch noch nicht ganz munter.
Das geistige Erbe dieser Landschaft – das sind nicht zuletzt Literatur und Lyrik - möge bewahrt bleiben wie die alten Gebäude, Friedhöfe, Kirchen und Synagogen. Diese Dinge sind die teils gehobenen, teils ungehobenen Schätze eines im Weltschatten liegenden, bei näherem Hinschauen aber faszinierenden europäischen Winkels. Sie sind, um noch einmal bei Paul Celan und seiner Bremer Rede Anleihe zu nehmen, „sie sind nicht zeitlos. Gewiss, sie erheben einen Unendlichkeitsanspruch, sie suchen, durch die Zeit hindurchzugreifen, durch sie hindurch, nicht über sie hinweg. Sie können eine Flaschenpost sein, da sie ihrem Wesen nach dialogisch angelegt sind, mit uns sprechen, sich an uns wenden wollen; eine Flaschenpost, aufgegeben in dem Glauben, sie könnten irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Sie sind in dieser Weise unterwegs, sie halten auf etwas zu: auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit“.
Berlin, im Frühjahr 2003
Aber man kann die Straßen und Grenzen des einstigen Czernowitzer jüdischen Ghettos abschreiten, ohne auf Fotos und historisch-karthografische Prothesen angewiesen zu sein. Und es ist nur eine Frage von Geschick und Gespür, den Betrieb ausfindig zu machen, in dem sich ein Paul Celan vor seinen Verfolgern versteckte, während man seine Eltern verhaftete und deportierte; das Haus zu erkennen, in dem sich Rose Ausländer gemeinsam mit ihrer Mutter in schwerer Zeit verborgen hielt: denn beides steht noch. Die Stadt, sie ist noch da. Die große Synagoge in Wiznitz gibt es noch. Die Residenz der Friedmanns in Sadagora, das Wohnhaus der chassidischen Zaddikim, die Schul und die Klaus dort, sie existieren!
Der Pruth fließt, seine Kiesbänke leuchten. Das Land ist grün und frei. Die jüdischen Friedhöfe draußen in den Feldern und an den Wegrainen spinnen sich hinter Gebüsch und Hecken für die Ewigkeit ein. Klapprige Autobusse verkehren wie in den frühen Dreißigern und bringen die Menschen nach Berhomet und Bojan, nach Hliboka und Novosielitza. Die Menschen sind freundlich und herzlich. Man achtet das jüdische Erbe nach Maßgabe der wirtschaftlichen Möglichkeiten und der finanziellen Leistungskraft des Landes, auch gegen Gleichgültigkeit und dumpfe Umtriebe, von denen die Ukraine nicht frei ist. Die Bukowina ist aus einem halbhundertjährigen Dornröschenschlaf erwacht, wenn auch noch nicht ganz munter.
Das geistige Erbe dieser Landschaft – das sind nicht zuletzt Literatur und Lyrik - möge bewahrt bleiben wie die alten Gebäude, Friedhöfe, Kirchen und Synagogen. Diese Dinge sind die teils gehobenen, teils ungehobenen Schätze eines im Weltschatten liegenden, bei näherem Hinschauen aber faszinierenden europäischen Winkels. Sie sind, um noch einmal bei Paul Celan und seiner Bremer Rede Anleihe zu nehmen, „sie sind nicht zeitlos. Gewiss, sie erheben einen Unendlichkeitsanspruch, sie suchen, durch die Zeit hindurchzugreifen, durch sie hindurch, nicht über sie hinweg. Sie können eine Flaschenpost sein, da sie ihrem Wesen nach dialogisch angelegt sind, mit uns sprechen, sich an uns wenden wollen; eine Flaschenpost, aufgegeben in dem Glauben, sie könnten irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Sie sind in dieser Weise unterwegs, sie halten auf etwas zu: auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit“.
Berlin, im Frühjahr 2003