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ПОЕТИЧНА АТЛАНТИДА БУКОВИНИ. Poetisches Atlantis Bukowina
Der 4. Oktober 1875 war einer der glorreichsten und denkwürdigsten Tage in der Geschichte der Stadt Czernowitz und der ganzen Bukowina: An diesem Tag feierte man das Fest der hundertjährigen Vereinigung des Herzogthums Bukowina mit dem Österreichischen Kaiserstaat, welches in der weihevollen Eröffnung der deutschen Franz-Josephs-Universität zu Czernowitz gipfelte. Dass an dieser neugegründeten Universität auch Lehrkanzeln für die ukrainische und rumänische Sprache und Literatur eingerichtet worden waren, bedeutete einen Triumph für die liberale Politik der Donaumonarchie. Die Feierlichkeiten in Czernowitz versammelten damals die vornehmsten Vertreter der politischen Elite und die prominentesten Intellektuellen aus ganz Europa. Die Universität Czernowitz sollte das östlichste deutschsprachige Kulturbollwerk sein, zu dem aus der Metropole Wien sowie aus anderen westeuropäischen Kulturzentren ein recht langer Weg führte.
Universität Czernowitz
(ehemalige Erzbischöfliche Residenz)
Diesen Weg beschreibt im September 1875, kurz vor der Czernowitzer Jubiläumsfeier, ein junger Wiener Journalist, der Mitarbeiter der Zeitung „Neue Freie Presse“ und Absolvent des Czernowitzer Gymnasiums Karl Emil Franzos in der Skizze „Von Wien nach Czernowitz“, die später in seine Sammlung „Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien“ (1876) aufgenommen wurde. Obwohl der Autor für die Beziehungen dieser Region Südosteuropas zu einer solch kaum komplementären lexikalischen Neuprägung griff, hat die Bukowina in diesen „Reisebildern“ einen besonderen Status, der sie von anderen „halbasiatischen“ Landstrichen vorteilhaft unterscheidet. Das geht ganz deutlich aus der abschließenden Passage der Skizze „Von Wien nach Czernowitz“ hervor, wo der Autor, nach einer langen, erschöpfenden Fahrt durch die eintönige, freudlose galizische Ödnis, endlich die Grenze der Bukowina überquert: „Die Heide blieb hinter uns, den Vorbergen der Karpathen braust der Zug entgegen und über den schäumenden Pruth in das gesegnete Gelände der Bukowina. Der Boden ist besser angebaut und die Hütten sind freundlicher und reiner. Nach einer Stunde hält der Zug im Bahnhof zu Czernowitz. Prächtig liegt die Stadt auf ragender Höhe. Wer da einfährt, dem ist seltsam zu Mute: Er ist plötzlich wieder im Westen, wo Bildung, Gesittung und weißes Tischzeug zu finden sind. Und will er wissen, wer dies Wunder vollbracht, so lausche er der Sprache der Bewohner: Sie ist die deutsche. Und er sehe zu, zu welchem Fest sie rüsten; zu einem Feste des deutschen Geistes. Der deutsche Geist, dieser gütigste und mächtigste Zauberer unter der Sonne, er – und er allein – hat dies blühende Stücklein Europa hingestellt, mitten in der halbasiatischen Kulturwüste! Ihm sei Preis und Dank!“
„Der deutsche Geist“, von dem Franzos so begeistert spricht, war Urheber und Inspirator des europäischen Wesens der Stadt Czernowitz sowie jener einzigartigen multinationalen Bukowiner Kultur, die uns heute als ein versunkenes Atlantis, als ein Czernowitzer Mythos vorschwebt, in dem sich das Reale mit dem Fantastischen, das Alltägliche mit dem Utopischen und das Ernste mit dem Anekdotischen vermischt hat. Dieser Mythos umhüllte das alte Czernowitz mit der Aureole einer ungewöhnlichen Stadt von Schwärmern und Anhängern, Wundertätern und Heiligen, Propheten und Genies. „Czernowitz, das waren Sonntage, die mit Schubert begannen und mit Pistolenduellen endeten. Czernowitz, auf halbem Weg zwischen Kiew und Bukarest, Krakau und Odessa, war die heimliche Hauptstadt Europas, in der die Metzgertöchter Koloratur sangen und die Fiakerkutscher über Karl Kraus stritten. Wo die Bürgersteige mit Rosensträuchern gefegt wurden und es mehr Buchhandlungen gab als Bäckereien. Czernowitz, das war ein immerwährender intellektueller Diskurs, der jeden Morgen eine neue ästhetische Theorie erfand, die am Abend schon wieder verworfen war. Wo die Hunde die Namen olympischer Götter trugen und die Hühner Hölderlin-Verse in den Boden kratzten. Czernowitz, das war ein Vergnügungsdampfer, der mit ukrainischer Mannschaft, deutschen Offizieren und jüdischen Passagieren unter österreichischer Flagge zwischen West und Ost kreuzte“, - summierte einige wesentliche Züge des Czernowitzer Mythos der deutsche Publizist Georg Heinzen im Rheinischen Merkur vom 1. Februar 1991.
Czernowitz, die Hauptstadt des ehemaligen habsburgischen Kronlandes Bukowina, „einer Gegend, in der Menschen und Bücher lebten“ (Paul Celan), war der „Fliegende Holländer“ der Geschichte. In den letzten 250 – 300 Jahren wechselte die Stadt ihre Herrscher, staatlichen Regime und Nationalfahnen wie Handschuhe. Sie war fürstlich-moldauisch, sultanisch-osmanisch, k.u.k.-österreichisch-ungarisch, königlich-rumänisch, kommunistisch-sowjetisch. Heute ist sie ukrainisch. Dementsprechend wechselte auch ihr Name: Czernowitz – Cernauti – Cernovcy – Cernivci – bis zu dem von der Fantasie eines ihrer ironischsten Söhne, Gregor von Rezzori, geprägten, auf der geografischen Mappe kaum existierenden, auf der Literaturkarte durchaus realen Tschernopol („Ein Hermelin in Tschernopol“). Eine schlicht fantastische Stadt, deren Periphrasen eine geistreiche poetische Amplifikation bilden: „Babylon des südöstlichen Europas“, „das zweite Kanaan“, „Jerusalem am Pruth“, „Alexandrien Europas“, „das kleine Wien“ usw., eine Stadt, in der etwa ein Dutzend verschiedener Nationalitäten lebte und wo jeden Tag ein halbes Dutzend Sprachen klang, wo eine einzigartige Symbiose germano-romano-slawisch-jüdischer Kultur mit ihrer polyethnischen Buntheit und ihrem kosmopolitischen Geist bestand.
Der Spiegelkarpfen,
in Pfeffer versulzt,
schwieg in fünf Sprachen –
behauptet eine der eindringlichsten Dichterinnen dieses Landes Rose Ausländer („Czernowitz I“).
Jede der nationalen Literaturen hat in diesem Landstrich ihre Leistungen hervorgebracht, die sie stolz der Welt vorlegen kann. In Czernowitz verbrachte seine Jugend der große rumänische Dichter, „letzter Romantiker der Weltliteratur“, Mihai Eminescu. Hier lebten und wirkten die Klassiker des ukrainischen Schrifttums Juirij Fedkowicz und Olga Kobyljanska. In dieser Stadt entfaltete sich das Schaffen bedeutender jiddischer Autoren, virtuoser Sprachmeister wie Elieser Steinbarg, Itzig Manger und Mojsche Altmann. Der Jüngste aus dieser Kohorte Josef Burg ist nun neunzigjährig.
Selbstverständlicher Teil dieser bunten Kultursymbiose war die deutsche Literatur der Bukowina. Heute ist sie wie ein abgebrochener Zweig eines blühenden Baumes, eine verlorene Harfe, deren Saiten noch vor kurzem, in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts, melodisch klangen. Mit ihren Wurzeln reicht diese Literatur bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals lebten und wirkten in der Bukowina die Schriftsteller, die als Vertreter der „ukrainischen Dichterschule“ in der österreichischen Literatur bekannt sind: Ernst Rudolf Neubauer (1822 – 1890), Moritz Amster (1831 – 1903). Ludwig Adolf Simiginowicz-Staufe (1832 – 1897), Viktor Umlauff Ritter von Frankwell (1836 – 1887), Johann Obrist (1843 – 1901), der bereits erwähnte Karl Emil Franzos (1848 – 1904) u.a. Sie alle dichteten in deutscher Sprache und besangen einfühlsam die Bukowina, ihre wunderbare Natur, ihre fleißigen Menschen, ihre Volkssitten und Bräuche. Sie sammelten und popularisierten im deutschen Sprachraum Perlen ukrainischer sowie rumänischer Folklore und Literatur und schufen demokratische Grundlagen des deutschen Schrifttums in der Bukowina, zu dessen Entwicklung auch die ukrainischen Autoren Jurij Fedkowicz, Isidor Worobkjewicz, Jewgenia Jaroschynska, Osyp Makowej und Olga Kobyljanska beitrugen, die ihren Weg in der Literatur als deutschsprachige Autoren begannen.
Kinderspital des Edlen von Mosara
(Heinrich Fischer), Czernowitz,
Dr. Wolan Gasse
Solch reichliche Saat brachte gute Ernte: Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich in der Bukowina eine deutschsprachige Literatur als Teil des allgemeinen österreichischen Literaturprozesses. Es erschienen literarische Jahrbücher und Almanache („Buchenblätter“, „Bukowiner Hauskalender“), Zeitschriften und Kulturbeilagen in deutschsprachigen Zeitungen („Im Buchenwald“, „Familienblätter“, „Sonntagsblatt der Bukowina“), Gedichte, Prosabände und Theaterstücke. Freilich hatten die meisten Werke ein nur durchschnittliches Niveau und einen unübersehbaren provinziellen Charakter, was auf das kulturelle Neuland, welches die Bukowiner Autoren zu bearbeiten hatten, auf die Entfernung von Kulturmetropolen und den Mangel tiefer und dauernder Traditionen zurückzuführen war. Aber nach dem Ersten Weltkrieg, als die Bukowina an Rumänien fiel und man begonnen hatte, infolge intensiver Rumänisierung Deutsch aus allen Sphären des Lebens zu verdrängen, tauchte hier (und darin lag ja eines der größten Paradoxe) ein Gestirn junger Talente auf, welches die deutschsprachige Literatur rasch modernisierte und in Berührung und Resonanz mit dominierenden Trends in anderen westeuropäischen Ländern, vor allem mit der Literatur Österreichs und Deutschlands, brachte.
Die meisten dieser Dichter stammten aus assimilierten jüdischen Familien. Ihre Urgroßväter wanderten seinerzeit unter dem liberalen und judenfreundlichen Kaiser Joseph II. in die Bukowina ein und ließen sich hier nieder. Sie strebten die deutsche Kultur an und erzogen ihre Kinder im Sinne der deutsch-jüdischen Symbiose, wie es später der Vater von Karl Emil Franzos seinem Sohn beizubringen versuchte: „Du bist ein Deutscher“, pflegte er ihm zu sagen, „freilich jüdischen Glaubens. Aber auch dessen hast du dich nicht zu schämen!“
Unter Kaiser Franz Joseph I. erreichte die jüdische Gemeinde in Czernowitz ihre Blütezeit. Sie machte zur Jahrhundertwende etwa ein Drittel der gesamten Bevölkerung der Stadt aus, die damals über 100.000 Einwohner zählte. Obwohl die jüdische Gemeinde von Czernowitz nie allzu sehr einheitlich war und von Zeit zu Zeit in heftige, freilich recht harmlose innere Konflikte zwischen Orthodoxen und Chassiden, Liberalen und Zionisten geriet, dominierte hier immer die assimilierte Schicht der gebildeten Juden, die als Industrielle, Bankiers, Kaufleute, Rechtsanwälte, Ärzte, Gymnasial- und Universitätsprofessoren tonangebend waren, im Alltag wie auch im öffentlichen Leben überhaupt. Ihre Umgangssprache war weder Jiddisch noch Hebräisch, sondern Deutsch, und als solche waren sie glühende Anhänger der deutschen Bildung und Kultur. Aus diesem bürgerlichen Stand kamen hauptsächlich die deutsch-jüdischen Dichter der Bukowina, die mit den großen Vorbildern der deutschen Klassik – von Goethe, Schiller, Hölderlin und Heine bis Rilke, Trakl, Stefan George und Gottfried Benn – aufwuchsen. Dabei wohnen in ihren Werken fast immer – bewusst oder unbewusst – auch wichtige Elemente der jüdischen Kultur – mythologische Vorstellungen, die mit ihren Wurzeln noch an biblische Zeiten reichen, in denen das Echo tragischer Kollisionen und nationaler Katastrophen mitklingen, moralische Imperative, welche die Besonderheiten des Sittenkodex und der Lebensrealien des Alltags der Juden im Laufe ihrer tausendjährigen Geschichte widerspiegeln. Hier verflochten sich dicht miteinander Jeremias Klagelieder und militante Aufrufe des Bar Kochba, Salomos Gesänge und Davids Psalmen, chassidische Legenden und mystische Vorsehungen der Kabbala. Zugleich erhielt diese Dichtung recht spürbare Impulse seitens ukrainischer oder rumänischer Folklore und wurde auch von diesen Kulturen sehr positiv befruchtet.
Der Zahl ausgeprägter Talente, der Einmaligkeit schöpferischer Schreibweisen, der Vielfalt ästhetischer Programme nach gehörte die deutschsprachige Lyrik der Bukowina in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu den markanten Erscheinungen der europäischen Dichtung. Das war eine mächtige Explosion poetischer Substanz, gleich einer Gewitterentladung, die aus den tiefen Schichten des Bewusstseins und Kulturgedächtnisses der jungen Generation Czernowitzer Intellektueller blendende Funken glühenden Feuers hervorschlug. Die Namen von Alfred Margul-Sperber, Georg Drozdowski, Rose Ausländer, Klara Blum, Moses Rosenkranz, Alfred Kittner u.a. Dichtern, deren Werke zum ersten Mal in den Czernowitzer Verlagen, Zeitschriften, Zeitungen und Almanachen der zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahunderts erschienen, sind heute im deutschsprachigen Raum bekannt. Der zweiten Generation der Czernowitzer Dichter, die Ende der dreißiger Jahre, Anfang der vierziger Jahre den literarischen Schauplatz zu betreten begann, und der Immanuel Weissglas, Alfred Gong, Paul Celan angehörten, war es nicht mehr beschieden, den dichterischen Ruhm in der Heimatstadt zu genießen. Ghetto, Deportationen, Arbeitslager, die mit dem Zweiten Weltkrieg in ihr Leben hereinbrachen, ersetzten ihnen die literarische Ausformung. Die achtzehnjährige Selma Meerbaum-Eisinger, diese Bukowiner Schwester von Anne Frank, ging tragisch in einem solchen Arbeitslager in Transnistrien zugrunde, wohin übrigens aus Alfred Kittner, Immanuele Weissglas und Alfred Gong verschleppt worden waren, und wo das Leben der Eltern Paul Celans tragisch endete. Ihre letzten Gedichtzeilen, die eine einzige Strophe unter dem Titel „Tragik“ bilden, klingen wie eine gehobene Elegie der Selbstaufopferung:
Das ist das Schwerste – sich verschenken
und wissen, dass man überflüssig ist.
Sich ganz zu geben und zu denken,
dass man wie Rauch ins Nichts verfließt ...
rechts: Ärztehaus
(rechts anschließend: Bauhandwerkerverein),
Dreifaltigkeits, Ecke Stefanie Gasse
Sucht man Analogien zum Czernowitzer literarischen Phänomen, so taucht hier am häufigsten eine andere typologisch verwandte und fast gleichzeitig zu beobachtende Erscheinung auf – die deutsche Literatur Prags. Natürlich sind hier künstliche Maßstäbe, ästhetische Präferenzen und axiologische Dimensionen kaum vergleichbar, wie unvergleichbar auch die Gattungsdominanten sein mögen (für die Prager deutsche Literatur war die Prosa charakteristisch, für die Literatur der Bukowina die Lyrik), doch sind sie vielleicht im Entscheidensten verwandt – der deutschen Inselkultur in einem fremden ethnischen Milieu und ihrem engen geografischen Raum. Daraus resultiert ihre Dichte, ihre sprachliche Intensität, und nicht zuletzt das gemeinsame Aresenal künstlerischer Mittel – von Themen, Motiven, Bildern – bis zur Verwendung gleicher Metaphern bei verschiedenen Dichtern.
Es geht hier natürlich nicht um Epigonentum, auch nicht um schöpferische Entlehnungen. Es geht um typologische Kongruenzen, die durch die Atmosphäre des dichten Zusammenlebens, durch gemeinsame Erziehungs- und Ausbildungsgrundsätze, durch den sozialen und kulturellen Hintergrund der Czernowitzer Mikrowelt, sowie durch die gemeinsame Tragödie des Holocaust hervorgerufen wurden. Einige von ihnen wurden später in der berühmten „Todesfuge“ Paul Celans sublimiert. So kommt z.B. das Motiv „Grab in den Lüften“ auch in den Gedichten von Immanuel Weissglas („Er“, „Totenreigen“), Moses Rosenkranz („Klage“, „Halluzination“), Alfred Margul-Sperber („Auf ein Vernichtungslager“) vor. Das Celansche Oxymoron „schwarze Milch“ verwendeten vor ihm schon Rose Ausländer im Gedicht „Ins Leben“ aus dem Band „Der Regenbogen“ (Czernowitz 1939) oder Alfred Margul-Sperber im Gedicht „Der ferne Gast“ aus dem Band „Geheimnis und Verzicht“ (1939). In selben Jahr 1944, als Celans „Todesfuge“ entstand, erschien ein Gedicht unter dem Titel „Die Blutfuge“ von Moses Rosenkranz. Das Motiv des Brunnens, der so natürlich für Landschaft und Lebensart der Bukowina war, taucht mehrfach in der Dichtung der Czernowitzer Autoren auf – in den Gedichten von Alfred Margul-Sperber, Rose Ausländer, David Goldfeld (der diesen Begriff sogar auf die Titelseite seiner einzigen Gedichtsammlung brachte), Alfred Kittner, Immanuel Weissglas, Paul Celan, der die Bukowina als „Brunnenland“ bezeichnete.
Im verbrannten Hof
steht noch der Brunnen
voll Tränen
Wer weinte sie
Wer trinkt
seinen
Durst leer –
fragt Rose Ausländer in ihrer poetischen Miniatur aus dem Band „Andere Zeichen“ (1975). Der Brunnen, der nach seiner symbolischen Bedeutung das weibliche Element, den Mutterleib, die Befreiung und Säuberung von der Sünde verkörpert, zugleich aber auch mystische Einigung mit dem Jenseits, war ein verbreitetes Bild, das eine breite Skala gegensätzlicher Gefühle in sich trug: den brennenden Schmerz der Opferbereitschaft, unstillbare Heimatsehnsucht, geistigen Durst und physische Qual.
Erzähl von den Brunnen, erzähl
von Brunnenkranz, Brunnenrad, von
Brunnenstuben – erzähl –
[...]
Wasser: welch
ein Wort: Wir verstehen dich, Leben.
beschwört Paul Celan dieses Symbol im Gedicht „Oben, geräuschlos“ aus dem Band „Sprachgitter“ (1959). Ich glaube, dass das Schicksal der deutschen Dichtung der Bukowina diesem freudlosen, verlassenen Brunnen ähnlich ist, der den ganzen Schmerz und die ganze Trauer der leidvollen Welt in sich aufgenommen hat.
Die mächtigen Sturmwinde der Geschichte, die im Zwanzigsten Jahrundert auch in der Bukowina tobten, fegten die üppige Blüte dieses poetischen Gartens hinweg. Nach Verfolgungen und Gewalt durch totalitäre Regime nationalsozialistischer wie kommunistischer Prägung wurden die Vertreter der Czernowitzer Dichterschule in die ganze Welt verstreut – von Bukarest bis New York und von Düsseldorf bis Jerusalem. Dort versuchten sie eine neue Heimat zu finden, aber wirklich zu Hause fühlten sie sich, gleich Rose Ausländer, nur im Schoß ihrer Muttersprache.
Mein Vaterland ist tot
Sie haben es begraben
im Feuer
Ich lebe
in meinem Mutterland
Wort
Das Wort ist eine unzerstörbare Substanz. Es vibriert auch dann, wenn die letzte Saite zerrissen ist.
Die verlorene Harfe. Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik aus der Bukowina.
Zweisprachig, Deutsch-Ukrainisch. Konzept, Übersetzung, Vorwort und biobibliografische Anmerkungen von Peter Rychlo. Czernowitz 2002. ISNB 966-8029-12-7
Петрo Рихлo. Загублена арфа. Антологія німецькомовної поезії Буковини.
Концепція видання, переклад, передмова та біобібліографічні довідки Петра Рихла. Чернівці 2002. ISNB 966-8029-12-7