Czernowitz Bukowina - Wo Menschen und Bücher lebten

 

Inhalt

Buchvorstellung
Othmar Andrée

Dorothea Sella in "Mnemosyne"

Czernowitz oder was?
Mnemosyne schmückt sich mit Dorothea Sella


Ein wenig enttäuscht dürfen wir schon sein, wenn wir Armin A. Wallas und Andrea M. Lauritschs neuestes Heft Mnemosyne mit dem Titel Dorothea Sella zur Hand nehmen. Wir erwarten nämlich ein wenigstens fernes Echo auf das überwältigende Leseerlebnis, zu dem uns Dorothea Sellas unerhörtes, hinreißendes Opus geriet: Der Ring des Prometheus. Denksteine im Herzen. Das Buch erschien 1996 in Israel in deutscher Sprache und ist - dies zur Erinnerung - die ergreifende und in Bildern beklemmender Nähe und bodenlosen Schreckens aufsteigende Schilderung der Flucht zweier junger Menschen aus der Bukowina ins Innere Sowjet-Russlands. Beiden sind zunächst die rumänischen Besatzer auf den Fersen, später die deutschen Truppen auf ihrem Vormarsch in Richtung Kaukasus. Es scheint, als wollten die Herausgeber mit dem Hefttitel die literarische Person Sellas, die Macht ihres einzigartigen schöpferischen Wurfs, Kraft und Magie eines document humain ohne Beispiel noch einmal aufleben lassen; als wollten sie allein mit der Namensnennung das Können und die Botschaft dieser Autorin beschwören.

Aber daraus wird nichts. Der Titel des Heftes löst nicht im Entferntesten ein, was er verspricht. Sella hat mit dem dickleibigen Band, der sich die tragische Figur der griechischen Mythologie auf die Fahnen geschrieben hat und eigentlich gar kein Roman ist, für sich selbst und für uns Rezipienten höchste Maßstäbe gesetzt. Ihre gesammelten und hier vorgestellten Briefe, Tagebucheintragungen und persönlichen Skizzen aus der Zeit ihrer Aliah und den Anfangsjahren in Israel erreichen diese nicht annähernd. Das haben wir zu bedauern.

Was allerdings die Herausgeber bewogen hat, die Beiträge von Ernst Eisenmayer und Herbert Kuhner sowie die Kafka-Adaption Wolfgang Klaghofers unter dem Erinnerungsaffekt Dorothea Sella, Bukowina, Czernowitz, Krieg und Verfolgung oder welchem auch immer zu veröffentlichen, bleibt ein Rätsel. Arthur Horowitz und die Irrfahrten, Kriegs- und Nachkriegserlebnisse seiner Geschwister und Verwandten bilden da wohl eine Ausnahme, ebenso Brigitta Eszter Ganters etwas knapp und schlicht geratene Arbeit über den Einfluss Martin Bubers auf die deutsch-jüdische Intelligenz bis 1914 oder Robert G. Weigels sich bemüht gebende und detailverhaftete Auseinandersetzung um Soma Morgenstern. So wirkt alles wie zusammengeklaubt, fehlt der Sammlung ein gerütteltes Maß an inhaltlicher Stringenz.

Am Ende also nur: Herzdame sticht? Kann aber doch nicht sein! Sollte man wirklich in der Wallas-Redaktion um Beiträge, um Untersuchungen, Gedanken, Ideen, die den Begriffs- und Geschichtstopos Czernowitz und Bukowina, meinetwegen jüdische Kultur ausleuchten, verlegen sein? Ist die gesamte Bukowina-Forschung, ihre Essayistik von uns unbemerkt ins Abseits geraten, unser Interesse an Czernowitz erlahmt? Wovon ist in diesem Band eigentlich die Rede?




Juni 2003



Mnemosyne. ZEIT-Schrift für jüdische Kultur
Heft Nr. 28/2002. Armin A. Wallas, Andrea M. Lauritsch (Hr.)
LIT VERLAG Münster, Br., 200 S., 14,00 €, ISSN 1022-2642






Josef N. Rudel

Die Literatur des "Nichtvergessens"
Dorothea Sella in der Zeitschrift „Mnemosyne“



Die letzte Nummer der "Mnemosyne" Nr. 28 (2003), die jetzt im LIT Verlag Münster erscheint, nach wie vor den Namen der Mutter der Musen trägt und stets im Kampf mit Lethe, dem Vergessen, als Siegerin hervorgeht, trägt diesmal auf dem Titelblatt den Namen Dorothea Sella. Das bedeutet, dass der Rezensent sie als Zentralfigur des Heftes zu betrachten hat. Das fällt mir leicht, weil Thea eine unserer Czernowitzer Landsmänninen ist, und wir sie und ihre Arbeit ziemlich gut kennen.


BildNoch in der frühen Kindheit vom Lesebazillus befallen, hatte sie, nach Volks- und Mittelschule, an der unglücklichen Universität unserer unglücklichen Vierstaatenstadt Philosophie, Romanistik und Literatur zu studieren begonnen. Während des Krieges, beim zeitweiligen Rückzug der Sowjetarmee aus Czernowitz, ist Thea nicht am Platz geblieben, um unter dem faschistisch-rumänischen Regime zu leben. Sie ist mit ihrem Mann und den Studiengefährten ins innere Russland geflüchtet, um den Judenverfolgungen zu entgehen. So kam sie nach Stawropol und Tbilisi, wo sie ihr Studium fortsetzte, konnte es jedoch erst 1947 in Bukarest abschließen.

Dieses Wanderstudium, meistens unter den unmenschlichsten Bedingungen und schwersten Nöten, hatte sie mit dem Tod ihres Gatten und den zwei Kleinkindern zu bezahlen.

Bis 1964 lebte sie, wiederverheiratet, mit ihrer neuen Familie in Bukarest, um schließlich nach Israel auszuwandern. Seither wohnt sie in Jerusalem, schreibt deutsch und überzeugt ihre beiden Söhne, Deutsch als Muttersprache, Umgangssprache und Kultursprache zu benutzen.

Hatte sie sich während des Studiums Francois Villon, Voltaire und dem Existenzialismus Sartres gewidmet, fühlte sie jetzt den unstillbaren Drang, ihre Erlebnisse während der Flucht in deutscher Sprache niederzuschreiben. So entstand ihre autobiografische Romantrilogie "Der Ring des Prometheus. Denksteine im Herzen", im Jerusalemer Verlag Rubin Mass erschienen.

Der Beitrag Dorothea Sellas in „Mnemosyne“ beschreibt einen Teil ihrer Aliah, eigentlich den letzten, den sie "Von Bukarest über Neapel nach Jerusalem" betitelt.

Der Abschied von Czernowitz verlief viel weniger dramatisch als das Verlassen Rumäniens. Absurde bürokratische Maßnahmen machten die Wartezeit zur Qual, abgesehen vom Abschied von Familie und Freunden und von den märchenhaften Schönheiten der Umgebung, vom sommerlichen Grün und vom winterlichen Weiß, die ihren Sohn Geri zum Gedichteschreiben anregte. Theas größter Sieg bestand jedoch darin, dass es ihr gelungen war, trotz aller ungünstigen Bedingungen ihren Kindern so viel Bildung mitzugeben und diese so tief zu verpflanzen, dass sie dem Vergessen widerstand.

Das Fragment in „Mnemosyne“ enthält Briefe der Kinder an ihre Großeltern, Tagebuchblätter, eine eingehende Beschreibung der Reise mit dem Schiff und die unvergessliche Ankunft in Haifa. Ein anderes packendes Thema bildet die Einordnung mit ihren sich stets abwechselnden Etappen, Träumen, Tränen, hellen Freuden und Stolz beim kleinsten Erfolg.

Die Zeit verging. Die Kinder wurden zu Männern und Soldaten. Sie erregten hie und da Aufsehen, weil sie miteinander deutsch sprachen.

BildDie Verhältnisse mit den arabischen Nachbarn waren beängstigend. Die ständige Sorge um die Kinder verscheucht die Nachtruhe, sie steigt und sinkt wie Flut und Ebbe, im Rythmus der Radionachrichten. Wie oft stößt Thea aus: "Wenn sie nur keine Soldaten wären! Wenn sie nur studieren könnten!"

Dorothea Sellas Lebensraum ist die Kultur. Hier bewegt sie sich wie der Fisch im Wasser und der Vogel in der Luft. Ihre größte Sorge war, die Söhne im selben Medium aufzuziehen. Es ist ihr gelungen.

Soweit über den Beitrag Dorothea Sellas. Die Autoren der folgenden Texte sind Ernst Eisenmayer, Wolfgang Klaghofer, Arthur Horowitz (ein Landsmann Dorothea Sellas und des Rezensenten), Brigitta Eszter Gantner und Herbert Kuhner.

Eine reichhaltige Rubrik "Berichte und Besprechungen" beschließt das Heft.

Erwähnenswert aus dieser Rubrik sind die Rezensionen der vier Bände Sibirien-Erinnerungen von Margit Bartfeld-Feller, von Armin A. Wallas, "Kleine Einführung in das Judentum", Handbuch zur deutsch-jüdischen Literatur" (Hrsg. Daniel Hoffman), „An der Zeiten Ränder - Czernowitz und die Bukowina" (Hrsg. Cécile Cordon und Helmut Kusdat) sowie die Vorstellung der Prosaanthologie des deutschsprachigen Israelischen Schriftstellerverbandes (Hrsg. J. N. Rudel).


j.n.r.

Die Stimme. Mitteilungsblatt für die Bukowiner. Tel Aviv
Nr. 638. Juni 2003. Seite 4







Bildnachweis: Bahnhof und Strada Universtitatea bei czernowitz.dnsalias.org

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