Czernowitz Bukowina - Wo Menschen und Bücher lebten

 

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Buchvorstellung
Othmar Andrée

Neu gemischt: Czernowitz im Spiegel seiner Dichter

Die Geschichte einer Stadt und die dunklen Geschichten ihrer Hinterseite, nicht weniger ihr kultureller Kurswert, sind nicht allein an den Fassaden der Häuser abzulesen, seien diese auch noch so schön. Es genügt leider nicht, die Augen offen zu halten. Man muss sich schon ein wenig bequemen. Natürlich kann man sich mit dem Ziel Czernowitz in die Obhut eines professionellen Reiseführers begeben, der einem für gutes Geld die Stadt nahe bringt. Nicht unbedingt preiswerter, dafür aber gründlicher, in höherem Maße vertiefend und nachhaltig, gleichsam verinnerlichend ist es, sich in den Gegenstand einzulesen.

Damit das glückt, hat uns jetzt der Klagenfurter Verlag Wieser ein Büchlein in die Hand gegeben, das sich dazu vorzüglich eignet: Peter Rychlos unter dem Titel Europa erlesen. Czernowitz herausgegebene Anthologie der Erinnerungen, Betrachtungen, Besinnlichkeiten, Aufzeichnungen, Gedanken, die alle mit dieser Stadt zu tun haben, auf sie verweisen, aus ihr ihre Kraft schöpfen. Überwiegend sind es kurze Prosastücke, Briefe, Essays, aber immer wieder stößt man auch auf Lyrik. Was den Verlag geritten haben mag, mit einem Einbandentwurf daher zu kommen, der mit der Goldprägung seines mattschwarzen Covers mehr an ein ukrainisches Gebetbüchlein erinnert als schlicht die beachtliche, ja außergewöhnliche Literatur einer am Rande des mitteleuropäischen Bewusstseins liegenden Gegend vorzustellen, weiß ich nicht. Immerhin hält sich der Band gut in den Händen und ist vielleicht gerade von seinem kompakten Format her genau das Richtige, auf der dreißigstündigen Bahnfahrt nach dem Mekka der Freunde und Verehrer Ostmitteleuropas den Begleiter zu spielen.

BildDas k.k. II. Staatsgymnasium
Eberhard Gasse
вул. Д. Загула

Rychlo lässt auf fast dreihundert Seiten noch einmal viele der vertrauten Stimmen zur Stadt Revue passieren - von Rose Ausländer über Alfred Gong bis Edith Silbermann -, steckt aber mit einer Reihe neu-alter Autoren auf den geschmückten Baum neue Lichter auf. Es sind dies Schriftsteller, Erzähler, Dichter und Poeten, die zu finden, aufzustöbern, zu übersetzen wir schon einige Mühe aufwenden müssten. So treffen wir auf das Gedicht Jung-Czernowitz von Klara Blum aus der Meschdunarodnaja kniga aus dem Moskau des Jahres 1941. Hier war wenigstens keine Übersetzungsarbeit zu leisten. Aber Rychlo führt uns auch in von ihm selbst bewerkstelligten Übersetzungen eine Reihe Autoren vor, deren ukrainische, polnische und jüdisch-russifizierte Namen zeigen, mit welcher Stadt wir es neuerlich zu tun haben.

Da erzählt Vasyl Koželanko etwa die Geschichte von der berüchtigten Denkmalsschändung auf der Piaţă Unirii, Igor Pomerancev erinnert sich an Paul Celan und die eigene Kindheit in Czernowitz, Mojsej Fišbejn brilliert mit einer Hommage an den Klassiker der modernen Lyrik. Sophia Majdanska schreibt einen Essay über die Verderblichkeit der Ware Stadt: Was an der Oberfläche liegt - das Augenfällige und Freimütige bis hin zur plakativen Deklarativität - und vom Künstler auf symbolischem Niveau charakterisiert wird, das ist die Angriffspsychologie einer brutalen Nomadenmasse, die hinter die Grenzen ihrer menschlichen Würde zurückgeworfen ist, einer Masse, die der geistigen Schätze ihrer eigenen Heimat entbehrt, sie als etwas Fremdes und Feindliches - bis zum Spott und Vandalismus - empfindet, sie […] einfach nicht haben und hinnehmen will. Da darf man dann schon nachdenklich werden, was etwa – ganz aktuell – den Umgang mit den kümmerlichen Resten frühklassizistischen Bauens in unserem Frankfurt am Main angeht. Diese Autoren vorzustellen ist schon deshalb verdienstvoll, weil für die Freunde der Stadt der literarische Faden nicht selten mit dem Zweiten Weltkrieg abgerissen scheint.


BildDas Generalsgebäude

Wir erfahren durch Karl Kraus, und zwar in den Nummern 781 bis 786 seiner Fackel - da schreiben wir das Jahr 1928 - vom Schlosser Karl Piehowicz, der offenbar nicht grundlos in der Czernowitzer Landesirrenanstalt festgehalten wird. Kraus hält ihn für den größten heute in deutscher Sprache denkenden, vielleicht den einzig großen Dichter, und einer der größten, die je gelebt haben, und präsentiert ein Stückchen Prosa und drei Gedichte, die tatsächlich verblüffen. Im Ernst: Man bekommt Lust, sich diese Lyrik übers Bett zu hängen. Schließlich seien zu Rychlos Sammlung, der übrigens ein gründliches Lektorat nicht geschadet hätte, die Briefe Ninon Ausländers an Hermann Hesse empfohlen, unter denen der erste aus dem Jahre 1910 schon ein wenig sprachlos macht. Ninon Ausländer war zu dieser Zeit Schülerin des Humanistischen Gymnasiums in Czernowitz und vierzehn Jahre alt.

Peter Rychlo schließt die Sammlung mit einem Aufsatz und dem Blick dessen, der die kulturhistorische Bedeutung der Stadt und ihre Größe gleichsam erfahren, erlebt, der sie sich erarbeitet hat, der sie ermessen und mit Fug über sie referieren kann. Die wird einem nämlich – wie schon gesagt – nicht hinterher getragen. Czernowitz als geistige Lebensform, so der Titel von Rychlos Aufsatz, weist auf das, was er als Maxime auf den Begriff bringen möchte: Die Stadt ist nicht gleich Vineta versunken.
 



Europa erlesen. Czernowitz
Gebundene Ausgabe
herausgegeben von Peter Rychlo, Czernowitz
Wieser Verlag Klagenfurt/Celovec
Erscheinungsdatum: Dezember 2004
ISBN: 3-85129-481-0
12,95 €

Bildquelle: www.dizzyweb.cv.ua/czernowitz/history/omo/photos.htm

 


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