Czernowitz Bukowina - Wo Menschen und Bücher lebten

 

Inhalt


Buchvorstellung


Peter Rychlo zu seinem Buch
(in Auszügen)


Czernowitz als geistige Lebensform

Glauben Sie nicht, dass Czernowitz eine Stadt ist. Es ist eine Welt -, meint die Wiener Publizistin Nora Gray. Eine geistige Welt, könnte man präzisieren, eine geistige Lebensform, um bei Thomas Manns Umschreibung seines Herkunftsortes Lübeck zu bleiben. Nein - mehrere geistige Welten, jede in sich einheitlich und abgerundet, da mehrere Ethnien und mehrere politische Regimes in Czernowitz zu Hause waren. Jede Welt als pars pro toto. Eine beliebige davon wäre schon imstande, die spirituellen Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung zu befriedigen. Wenn man sie aber dreimal, viermal, fünfmal multipliziert, wie steigt nun die geistige Potenz auf! Liegt denn nicht darin das rätselhafte, ja unfassbare Aufblühen der Czernowitzer Kultur verborgen?

Wie viel Engel können sich auf einer Nadelspitze einrichten? - diskutierten einst durchaus ernst mittelalterliche Scholasten. Wie viel Kulturen konnte man in einem engen Stadtraum mit der Fläche von einigen Quadratkilometern und der Bevölkerung von etwas über 100.000 Einwohnern unterbringen, wie es die offiziellen Statistiken noch kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges bezeugen?

Eine multikulturelle, polyethnische Stadt mit einem halben Dutzend Völkerschaften: Deutsche, Juden, Ukrainer, Rumänen, Polen, Ungarn, Armenier. Viersprachenlieder erfüllten die Luft -, erinnert sich Rose Ausländer. Czernowitz war schon immer polyglott. Die Zeitungen erschienen hier in sechs Sprachen (deutsch, ukrainisch, rumänisch, polnisch, jiddisch, hebräisch), in drei Schriften: mit lateinischen, kyrillischen und hebräischen Lettern. Es wimmelte von religiösen Bekenntnissen: griechisch-orientalisch, griechisch-katholisch (uniert), römisch-katholisch, armenisch-katholisch, evangelisch, mosaisch (orthodox und ultraorthodox). Mehrere Kirchen diverser christlicher Konfessionen, eine griechisch-orthodoxe Kathedrale, die erzbischöfliche Residenz, über 70 Synagogen und Betstuben. Der Geist braucht viel Raum.

Die Urgeschichte der Stadt seit ihrer Entstehung im Schoße des moldauischen Fürstentums - als eine unmerkliche Mautsiedlung auf dem Handelsweg von Lemberg nach Konstantinopel - verliert sich im Dunkeln. Angeblich sollte Czernowitz, gleich Rom, eine Zwillings- und Rivalenstadt haben. Die hieß Cecina und lag auf dem steilen rechten Pruthufer, während Czernowitz selbst zuerst das Flachland am niederen linken Ufer bevorzugte. Infolge häufiger Überschwemmungen und fehlendem Schutz vor Feinden wurde es auf die Hügel am rechten Ufer verlegt. 1408 wird Czernowitz zum ersten Mal urkundlich erwähnt, in einem vom moldauischen Wojewoden Alexander dem Guten (1400-1432) und der Kaufmannschaft von Lemberg abgeschlossenen Handelsvertrag. Man liest darin wörtlich: ... und in Czernowitz ist die Mauth von einem deutschen Wagen Vier Groschen, und von einem armenischen Wagen ist die Mauth Sechs Groschen, und von Einem Ochsen je Ein Groschen, von Zehn Schweinen je Ein Groschen, von Zehn Schafen je Ein Groschen, und von jedem Pferde, wie von jeder Stutte je Zwei Groschen und bei der Ueberfuhr von jedem beladenen Wagen, so vom deutschen wie vom armenischen je Vier Groschen. Das ist Czernowitzer Zoll. Und in Czernowitz sollen die Wagen nicht geschüttelt [untersucht], sondern es soll dem Kaufmann geglaubt werden, wenn er bei Treuen versichert, keine verbotene Ware mit sich zu führen auf seinem Wagen ....Wurzelten vielleicht in diesem milden, vertrauensvollen Umgang mit den Kaufleuten die Anfänge der späteren Czernowitzer Toleranz?

Dies war aber nur eine embryonale Entwicklung, eine Vorgeschichte. Die eigentliche Geschichte beginnt erst nach 1774, als die Bukowina in den Wirren des russisch-türkischen Krieges von den österreichischen Truppen des Generals Gabriel von Spleny besetzt und an das Habsburgische Österreich, zuerst als Teil Galiziens und ab 1849 als selbstständiges Herzogtum angegliedert wird. Dabei wurde Czernowitz zur Landeshauptstadt erhoben, und das bestimmte sein Schicksal bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, als die Bukowina an das Königreich Rumänien fiel, - ja sogar bis zur sowjetischen Okkupation 1940.

Es stellt außer Zweifel, dass Intensität und Reichtum der Czernowitzer Kultur in ihrer Mannigfaltigkeit liegen. Ein Schwarzwalddorf, ein podolisches Ghetto, eine Vorstadt von Graz, ein Stück tiefstes Russland und ein Stück modernstes Amerika, - so sah Czernowitz noch im 19. Jahrhundert der adoptierte Sohn der Bukowina, Karl Emil Franzos. Diese Kultur nährt sich aus steter Berührung und gegenseitiger Befruchtung der sie repräsentierenden Nationen. Bei solch einer Dichte konnten sie kaum isoliert bleiben, kulturelle Diffusionen waren unvermeidlich. Etwas aus dem Bereich der kommunizierenden Röhren, - nannte es Paul Celan.

Nationales Leben konzentrierte sich nach dem so genannten Bukowiner Ausgleich von 1910 - in dem alle ethnischen Gruppen rechtlich gleichgesetzt und in Kurien aufgeteilt wurden, wobei jede von ihnen ihre Abgeordneten in den Landtag schicken durfte -, in den um die Jahrhundertwende errichteten und seitdem lebhaft betriebenen Nationalhäusern, von denen es in Czernowitz fünf gab - nach der Zahl der wichtigsten Nationalitäten. Hier fanden feierliche Veranstaltungen statt – Versammlungen, Kongresse, Vorträge, Lesungen, Theateraufführungen, Musikabende, öffentliche Bälle, Ehrungen etc. - und wurden zahlreiche Vereine untergebracht. Vereine gab es in Czernowitz unzählige. Von der frühesten Lesegesellschaft Areopag, die bereits 1842 Moritz Saphir aus Wien anlässlich einer Vorlesung begrüßen durfte, über den Verein zur Förderung der Tonkunst in der Bukowina, die ukrainische Kulturgesellschaft Ruska besida, den rumänischen Leseverein Dacia, die zionistische Verbindung Hasmonäa, die polnische Lesehalle Czytelnia Polska und den Verein der christlichen Deutschen bis zu den nationalen Sportvereinen Turnvater Jahn, Makkabi, Dowbusch, Sokol und dem nach Prager Muster gearteten internationalen Männerbund Schlaraffia Pruthana. Allein die jüdische Gemeinde von Czernowitz verfügte unter den Habsburgern über 100 philanthropische, religiöse und kulturelle Vereinigungen, weshalb sie den Spitznamen Gemeinde der Vereine erhielt. Der Tätigkeitsdrang war enorm. Man war bestrebt, überall mitzumachen, manche brachten es zur gleichzeitigen Mitgliedschaft in einer beinahe unübersehbaren Zahl von Organisationen, wie zum Beispiel der Herausgeber des Illustrierten Führers durch die Bukowina von 1907, Hermann Mittelmann, der in nicht weniger als vierzehn Vereinen und Kommissionen tätig war.

Bild Das Musikvereinsgebäude
Rudolfsplatz



Jede der ethnischen Gruppen verfügte über ein eigenes Theater, das von Laiendarstellern oder von Berufskünstlern getragen wurde. Das von den Wiener Architekten Helmer und Fellner errichtete deutsche Schiller-Theater brachte klassische und moderne Stücke in vorzüglichen Aufführungen. Zu Gastspielen kamen das Wiener Hofburg-Theater und die Max-Reinhardt-Bühne, die Wilnaer Truppe oder das Moskauer Künstlertheater. Große Schauspieler erschütterten die Seelen: Max Pallenberg, Paul Wegener, Alexander Girardi, Paula Wessely, Hansi Niese, Paul Morgan, Alexander Moissi, Albert Bassermann, Ida Ehre. Nach der Romanisierung des deutschen Theaters im Jahre 1922 organisierte eine Gruppe von Amateuren die so genannten Czernowitzer Kammerspiele, die das moderne dramatische Repertoire auf andere Bühnen der Stadt und sogar zu häufigen Gastspielen in andere Städte brachte.

Man hat sich in dieser Stadt, die mittlerweile auf rumänisch Cernăuţi hieß und einen starken Rumänisierungsdruck spürte, nie gelangweilt, da öffentliche und private Kommunikation und ständiger Dialog zu den selbstverständlichen, ja unentbehrlichen gesellschaftlichen Verkehrsformen gehörten. Man traf sich in den nach Wiener Art eingerichteten Kaffeehäusern Schwarzer Adler, Café Habsburg, Café l'Europe oder Kaiser-Café, wo Zeitungen aus aller Herren Ländern vorlagen. Man kam zu Hauskonzerten oder Dichterlesungen in privaten Salons zusammen, wie bei dem bekannten Nervenarzt Dr. Alfred Ramler oder bei der Kunsthistorikerin Dr. Martha Kern. Czernowitz war von leidenschaftlichen Lesern bewohnt - man denke hier nur an das geradezu ehrfürchtige Zittern, mit dem jedes frische Heft der von Karl Kraus herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel zur Hand genommen und dann verschlungen wurde. Außer herrlichen öffentlichen Bibliotheken wie der Landes- oder Universitätsbibliothek, gab es eine Reihe prächtiger privater Büchersammlungen, wie zum Beispiel die von Dr. Horowitz, in der der junge Gymnasiast Paul Antschel (Celan) so gerne stöberte. Und welche für Bücherschätze beherbergte die Bibliothek der Toynbeehalle!

In dem von Dr. Kettner geleiteten Ethischen Seminar studierte man gründlich philosophische Werke von Plato, Spinoza oder Constantin Brunner, das Alte und das Neue Testament. Rosalie Scherzer (Ausländer) besuchte als junges Mädchen dieses Seminar und schrieb damals einige philosophische Essays, die in ihrem Nachlass erhalten blieben. An der Universität hielten prominente Wissenschaftler Vorlesungen: der Mathematiker Hans Hahn, der Rechtssoziologe Eugen Ehrlich, der Nationalökonom Josef Schumpeter, der Historiker Raimund Friedrich Kaindl. der Germanist Wilhelm Kosch oder der Anglist Leon Kellner. Eine bunte Palette von Studentenverbindungen verschiedenster Couleurs und national-politischer Ausprägung - insgesamt etwa 25 (!) — sorgte dafür, dass die geistige Energie der Jugend nicht vom trockenen Akademismus gelähmt wurde.

Ein Spezifikum des geistigen Lebens in Czernowitz bildete die starke Präsenz der Juden. Neben zwei autochthonen Ethnien - den Ruthenen (Ukrainer) und den Rumänen - waren die Juden hier seit dem Mittelalter bodenständiger als die andern. Der jüdische Anteil wechselte je nach den politischen Umständen, betrug aber am Ende der österreichischen Ära und in der rumänischen Zeit mehr als ein Drittel der gesamten Bevölkerung. Es gab hier Orthodoxe und Liberale, Chassidim und Haskala-Anhänger, Zionisten, Bundisten und Marxisten. Infolge ihrer beträchtlichen Zahl entstanden bis zum Zweiten Weltkrieg keine Ghettos, obwohl schon ihre soziale Schichtung recht divergent war: Handwerker und Kleinhändler aus der unteren Stadt klammerten sich an das Jiddische, das wohlhabende Bildungsbürgertum und die Intellektuellen pflegten ihr Deutsch. Bedeutete in den Augen der ersten die Assimilation eine Todsünde, so sahen die zweiten im Jiddischen nur ein verdorbenes Deutsch, einen Jargon schlechthin. Doch beide Gruppen waren ungeheuer kreativ und hinterließen beachtliche Werke in verschiedenen Bereichen, insbesondere auf dem Gebiet der Literatur. Chassidische Mystik, Wunder aus Sadagura - einem kleinen Marktflecken in der Nähe von Czernowitz, wo die berühmte Rabbinerdynastie Friedmann residierte - faszinierte sowohl jiddischsprachige (Elieser Steinbarg, Itzig Manger, Moische Altman, Josef Burg), als auch deutschsprachige Autoren (Rose Ausländer, Paul Celan, Alfred Gong, Gregor von Rezzori, aber auch Wahl-Galizier wie Leopold von Sacher-Masoch oder Martin Buber). Die erste Weltkonferenz für jiddische Sprache und Literatur, die 1908 in Czernowitz von Nathan Birnbaum organisiert wurde, versammelte Persönlichkeiten wie Jitzchok Leib Peretz, Chaim Zhitlowsky, Schalom Asch, Moshe Leib Halpern. Jiddisch wurde damals neben dem Hebräischen zur Nationalsprache der Juden erklärt. Dies öffnete den breitesten Kreisen der Jiddischsprechenden den Weg zum geistigen Leben der Nation und war der Auftakt zur Blüte der jiddischen Literatur.

Es war wirklich so, als ob jede ethnische Gruppe nun das Beste von sich geben wollte. Hat es sich gelohnt? Und wie! In dieser Stadt beginnt man Schwindel erregende Karrieren, die man dann woanders fortsetzt. Czernowitz ist aber als Sprungbrett unersetzlich. Hier wimmelt es an Ideen, originellen Theorien und Talenten.

Die nationalen Bestrebungen der Bukowiner Ukrainer äußerte bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Dichter Osyp Jurij Fedkovyc, der deutsch und ukrainisch schrieb und der in Czernowitz die erste ukrainische Zeitung Bukowina gründete. Heute trägt die hiesige Universität seinen Namen. 1913 wird hier der aus Galizien stammende Ivan Franko stürmisch umjubelt, als er vor dem vielköpfigen Publikum im ukrainischen Nationalhaus (Narodnyj Dim) aus seinem programmatischen Meisterwerk, dem Moses-Poem, liest. Zu dieser Zeit keimen im ukrainischen Schrifttum die ersten modernistischen Ansätze. Mit raffinierter psychologischer Feinfühligkeit thematisiert in ihren Skizzen, Novellen und Erzählungen die im Schoß deutscher Kultur aufgewachsene, von Schopenhauer und Nietzsche stark beeinflusste Olga Kobyljans'ka Probleme der Frauenemanzipation und der künstlerischen Freiheit.

Die literaturbegeisterte rumänische Jugend um die Zeitschrift Junimea liberară, die den in Czernowitz verbrachten Jahren des Nationaldichters Mihai Eminescu, des letzten Romantikers der Weltliteratur, nachspürt und sie zu einem Lokalmythos hochstilisiert, einigt sich Anfang der 30er Jahre zu der Dichtergruppe Iconar, einer literarischen Bewegung, die eine entscheidende Erneuerung traditioneller Bildlichkeit und poetischer Ausdrucksmittel herbeiführt und heute als Vorbild und erste Artikulierung des rumänischen Surrealismus gilt.

Der jiddische Fabeldichter Elieser Steinbarg, der Begründer des Jüdischen Schulvereins, schart begabte Kinder aus armen Familien um sich, um ihnen das Licht des Wissens näher zu bringen. In der Sommerkolonie des vorkarpatischen Wiżenka erzählt er ihnen farbenreiche Märchen, singt mit ihnen jiddische Lieder und spielt mit ihnen Kindertheater. Unter seinen Zöglingen befindet sich das kleine jüdische Bürschlein Joseph Schmidt, das mit himmlisch-süßer Stimme singt. Bald wird er als der deutsche Caruso die größten Bühnen der Alten und der Neuen Welt erobern. Im Saal des Musikvereins veranstaltet der Prinz der jiddischen Ballade, Itzig Manger, unvergessliche rezitatorische Abende, bei denen er das Publikum durch seine Improvisationen nahezu hypnotisiert. Ein künstlerisches Wunderkind, der zwölfjährige jüdische Maler Moses Barasch, präsentiert in einem der besten Säle seine Bilder. Heute noch kann man einige dieser großformatigen Ölbilder im jüdischen philanthropischen Zentrum Chessed Schoschana (חסד שושנה) sehen.

Um 1910 spielt im Hof eines wohlhabenden bürgerlichen Hauses ein stilles Kind. Es ist der Sohn eines Czernowitzer Bankiers und heißt Erwin Chargaff. Später wird er in Wien Naturwissenschaften studieren und ein biochemisches Institut in New York gründen. Als erfolgreicher Genforscher entdeckt er nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlagen der Vererbung, und nur wegen Intrigen seiner Kollegen erhält er nicht den Nobelpreis. Vor kurzem enthüllte man an seinem Geburtshaus, in der ehemaligen Franzensgasse, eine Gedenktafel.

Ein anderer Naturwissenschaftler, der Pole Wojciech Rubinowicz, promoviert schon 1914 zum Dr. phil. an der hiesigen Francisco-Josephina in theoretischer Physik. Nach Jahren produktiver Arbeit an den Universitäten Laibach, Lemberg und Warschau erlangt er, wie Chargaff, Weltruhm.

Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich, der auf einem jüdischen Landgut in der Nähe von Czernowitz unter ukrainischen Bauernkindern aufwuchs, erhellt nach der Absolvierung des Czernowitzer Gymnasiums und seinen medizinischen Studien in Wien die Schattenseiten des sexuellen Lebens und reiht sich mit seinen bahnbrechenden Arbeiten in die Kohorte der großen Psychologen des 20. Jahrhunderts ein, deren Namen eine Revolution der sinnlichen Sphäre bedeuten.

Ob man danach schon von jung an strebte? Keinesfalls! Das zentrale Interesse vieler Intellektueller galt nicht dem ehrgeizigen Planen einer einträchtigen Karriere, nicht einem höheren Lebensstandard, es ging ihnen vielmehr um erkenntnisreiche Einsichten, sei es auf Wegen der Wissenschaft, Philosophie, Politik oder durch das Erlebnis von Mystik, Kunst, Dichtung und Musik -, entsinnt sich rückblickend Rose Ausländer.

In diesem Sinne schreibt 1910 ein vierzehnjähriges Mädchen namens Ninon Ausländer begeisterte Briefe an ihr literarisches Idol Hermann Hesse. Nach wenigen Jahren kommt sie nach Montagnola und wird seine Sekretärin und Ehefrau.

1934 gewinnt die deutschsprachige Dichterin aus Czernowitz, Klara Blum, den Preis der Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller für ihre Ballade vom Gehorsam, die von einem Moskauer Gremium als bestes antifaschistisches Gedicht geehrt wurde.

Um diese Zeit schwärmen die Czernowitzer Gymnasiasten Paul Antschel (Celan) und Immanuel Weissglas von Trakl und Rilke, Verlaine und Rimbaud und wettstreiten miteinander in der Übersetzung von Shakespeare-Sonetten.

Und im Czernowitzer Irrenhaus dämmert indessen ein verrückter Schlosser namens Karl Piehowicz vor sich hin, der angeblich mit einer genialen Dichterbegabung gesegnet sein soll. Karl Kraus schreibt in seiner Fackel: Der größte heute in deutscher Sprache denkende, vielleicht der einzige große Dichter, und einer der größten, die je gelebt haben, ist ein Schlosser, der in der Irrenanstalt von Czernowitz lebt (1928, Nr.781-786, S.91).

Als am 7. April 1939 Martin Buber im Czernowitzer Jüdischen Haus einen Vortrag über die Nationale Erziehung hält, weht vom neugotisch stilisierten Fachwerkgebäude des Deutschen Hauses in der prächtigen Herrengasse, die nun von den Rumänen in Strada Jancu Flondor umbenannt wurde, schon die Hakenkreuzfahne als ein Zeichen des herannahenden Übels. Zwei mächtige Diktatoren schließen 1940 einen Pakt, demzufolge die Nordbukowina mit Czernowitz sowjetisiert wird. Pakt schlägt sich, Pakt verträgt sich, - pflegte man damals in Czernowitz zu sagen. Was den Rumänen in zweiundzwanzig Jahren nicht gelang, gelingt Stalin in einem einzigen Russenjahr: Alle Vereine und politischen Parteien werden aufgelöst, die multinationalen und vielsprachigen Presseorgane beschlagnahmt, Kirchen und Synagogen geschlossen, öffentliche Aktivitäten verboten, volksfeindliche Elemente - vor allem wohlhabende Bürger und Intellektuelle - nach Sibirien verschickt. Die Volksdeutschen zog es reichheimwärts (Alfred Gong), etwas später trieb man die Juden durch das Fegefeuer Transnistrien, aus dem sich nur wenige retten konnten. Die Gegend, in der Menschen und Bücher lebten (Paul Celan), verlor auf einmal ihre beiden tragenden Lebensstützen. Czernowitz wurde zum schwarzen Witz der Geschichte.

Nein, die Stadt versank nicht gleich Vineta. Im Gegenteil, die architektonische Kulisse der k.u.k.-Zeit blieb unversehrt, die Häuserfassaden sind noch erkennbar, die Bevölkerung hatte sich in der kommunistischen Zeit beinahe verdoppelt. Auch Bücher gibt es hier reichlich. Nur - andere Bücher und andere Menschen. Homo sovieticus statt homo bucovinensis. Russisch als lingua franca für die heimischen Ukrainer und Rumänen, für die nach dem Zweiten Weltkrieg eingewanderten Russen und russischen Juden.

Erst nach der großen Wende 1991 beginnt man sich wiederum auf die nationale Identität und Multikulturalität im ukrainischen Černivci zu besinnen. Langsam, nur zögernd erwacht das historische Gedächtnis an jene Zeit, in der die Stadt Teil des mitteleuropäischen kulturellen Raumes war. An den abbröckelnden Wänden schimmern zuweilen hinter dem sowjetischen Putz deutsche oder rumänische Inschriften durch - Reklameschilder von Firmen, die nicht mehr existieren, Namen von Menschen, die längst tot oder in der ganzen Welt verstreut sind. Man lese diese Stadt wie ein altes Palimpsest, dessen geheimnisvolle Zeichen von einer geistigen Welt zeugen, die erst wieder entdeckt werden muss.





Europa erlesen. Czernowitz
Gebundene Ausgabe
herausgegeben von Peter Rychlo, Czernowitz
Wieser Verlag Klagenfurt/Celovec
Erscheinungsdatum: Dezember 2004
ISBN: 3-85129-481-0
12,95 €


Bildquelle: Czernowitz und die Bukowina. 1890 - 1910. Album Verlag. Wien 2001

 


 

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