Czernowitz Bukowina - Wo Menschen und Bücher lebten

 

Inhalt

די ערשטע יודישע שפּראַך-קאָנפערענץ
טשערנאָוויץ 1908
Die erste jüdische Sprachkonferenz Czernowitz 1908

Eröffnungsrede Nathan Birnbaums, 30. August 1908

Verehrte Gäste und Konferenzteilnehmer!

Die Gesellschaft belächelt gerne Menschen, die sich ein Vergnügen daraus machen, neue, unerforschte Wege zu gehen. Aber diese Menschen machen sich nichts daraus, Lächerlichkeit kann ihnen nichts anhaben. Im Gegenteil. Sie verfügen über besondere Kräfte, die Lacher abzuschütteln, sie zum Schweigen zu bringen und dem Verstand eine Schneise zu schlagen. Und sie werden nicht müde, der Gesellschaft und der Welt zu zeigen, dass nicht sie die Narren sind, sondern gerade jene, die sie dem Spott preisgeben wollen.

Schauen Sie beispielsweise auf die jüdische Sprachbewegung! Eingesetzt hat sie schon vor Jahrzehnten. Damals haben ein paar Kluge die Frage gestellt: Warum nennt man Sprache und erweist ihm die Ehre, was andere Völker aus verschiedenen Sprachen zusammengerührt und woraus sie ein eigenständiges Wesen mit einer eigener Seele geformt haben? Und warum nennt man es einen Jargon und macht sich darüber lustig, wenn die Juden mit dem Deutschen, dem Hebräischen und den slawischen Sprachen nicht anders verfuhren? Seinerzeit steckten die Juden ja noch mitten in der Assimilation und die nationale Bewegung hatte noch gar nicht eingesetzt. Vermutlich hatten sich erst wenige mit der Sprachenfrage befasst, aber sie hätten sie auch nicht verstanden. Deswegen ist aber die Idee noch lange nicht tot, und einer ihrer ersten Pioniere, wenn auch nicht der erste, Alexander Harkavy, lebt noch heute in New York und freut sich, sein Ideal verwirklicht zu sehen.

Als die jüdische Intelligenzija begann national zu denken, blickte sie nicht gerade mit Sehnsucht auf die jüdische Sprache, sah diese eher als eine Art Verhängnis, unter dem man litt, dem man sich aber nicht hingeben musste. Sie begriff nicht, dass es nicht genügt, wenn sich ein national empfindender kluger Mensch mit Leib und Seele seinem Volk verschreibt. Er muss auch in diesem Volk aufgehen, sich in der gleichen kulturellen Atmosphäre bewegen. Sein Denken sollte sich aus den Eigenheiten seines Volkes speisen und sich darauf mit einer Art erdverbundener Kraft einlassen. Und sie hatte auch kein Gespür dafür, dass der sich von seinem Volk abwendet, es ohnmächtig, ohne Freund und Lenker zurücklässt, der seine Sprache nicht spricht, die Sprache, in der sein Volk denkt und fühlt, klagt und Glück empfindet, weint und lacht, und dass der von aller Welt verlassen ist, sich verirren muss, den es weg von seinem Zuhause und seinem Volk wohin auch immer verschlägt.

Bildarbeter zajtung Czernowitz
1. Dezember 1921


Als man mit den Gebildeten über diese Dinge ins Gespräch kommen wollte, als man sie zu überzeugen versuchte, lächelten sie nur und lachten: „Wollt ihr tatsächlich, dass wir den Jargon gebrauchen, diesen unschönen Jargon? Das werdet ihr nicht schaffen! Bemüht euch nicht!“ Das waren ihre Worte, und sie betrachteten jeden als verrückt, der sie auf das Jüdische hin ansprach.

Aber die jüdische Sprache machte sich nichts aus ihrem Lächeln, ihrem Lachen, ihrer Einstellung, diese Sprache für albern und abwegig zu halten. Leise und unauffällig ging sie ihren Weg, einen verlässlichen Weg und einen, den ihr die neue Zeit und das alte Volk ebneten. Die neue Zeit brauchte sie, dieser einfältigen Gesellschaft die Augen dafür zu öffnen, damit sie die Wahrheit erkenne und das Recht habe, Forderungen zu stellen und an der Welt teilzuhaben. Und das alte Volk, als wäre es aus tiefem Schlaf erwacht und sehne sich nach einer großen Herausforderung, war ganz bestimmt nicht angetreten, sich der jüdischen Sprache in den Weg zu stellen. Schrittweise wuchs eine neue Schicht von Leuten heran, die mit ganz anderen Augen auf das Jüdische blickten als die national orientierte Intelligenzija von gestern. Diese Leute haben Großes bewirkt. Das eben ist der Genius unseres Volkes, hier schlägt sein Herz, das prägt sein Dasein. Was beklagen wir uns, wenn wir nicht genug für unsere eigene Wertschätzung empfinden? Wo wollen wir einen Anfang machen, wenn wir uns ein ganzes Leben lang vor uns selber schämen? Wo wollen wir beginnen, wenn wir eher dem Verstand der Hottentotten glauben als unserem eigenen, wenn wir deren armseliges Stottern für eine Sprache halten, unsere eigene dagegen, in die wir über Jahrhunderte unseren Geist, unser Herz, unseren Humor, unsere Freude und unsere Trauer hineingesenkt und verwahrt haben, für Geplapper und für einen Jargon? Wie nur soll ein Volk unter dieser unablässigen Majestätsbeleidigung gegen sich selbst ein Gefühl für seine Würde und für seine nationale Souveränität entwickeln? Lasst uns von dem Makel unserer Muttersprache, mit dem unsere kränkliche, mutlose jüdische Mentalität behaftet ist, befreien, und unser Volk wird wieder an Würde und Ansehen gewinnen!

Was jammern wir bloß, wir hätten zu wenig Gefühl für das Großartige, es sei nun einmal dem jüdischen Lebensgefühl fremd? Ist innere Größe nicht tatsächlich etwas, was wir als Idee und Verstand der Welt schenken können? Sind diese Dinge nicht das Abbild unserer inneren Größe, unserer inneren Eintracht? Hätten wir doch mit unseren Sinnen und dem unbestechlichen Blick fürs Große nur gespürt, hätten wir nur gefühlt, dass der kleine Plausch auf Deutsch oder Polnisch nicht unbedingt mehr aus uns gemacht, eher noch das wenige, soweit noch vorhanden, heruntergewirtschaftet hat. Dann würden wir verstehen, warum das Schäbige der jüdischen Sprache allein aus uns selbst kommt. Und wir würden begreifen, welche Garantien wir für die Schönheit einer Sprache geben können, wenn wir sie in Ehren halten und liebevoll pflegen. Wir würden verstehen, … also, versuchen, mich zu verstehen! Lasst uns den Bann von unserer Sprache lösen, und frischer Glanz wird auf unser Leben als Juden fallen.

Was beklagen wir uns, wir hätten in der Welt zu wenig Einfluss und Macht? Was tun wir, frische Quellen dafür zu erschließen? Sehen wir denn nicht, wissen wir nicht, was Sprache für ein Volk zu leisten vermag? Dass sie nämlich die Kultur eines Volkes nicht nur umhegen und beschirmen kann, sondern auch den Weg in die nationale Gleichberechtigung öffnet? Verfügen wir nicht über ein Stück an Fähigkeit und Stärke, das wir sogar mit uns herumtragen, in unserem Mund nämlich, und haben wir denn nichts weiter zu tun, als es zu nutzen?

Solche und ähnliche Klagen wurden immer wieder vorgebracht. Währenddessen entwickelte sich die jüdische Literatur weiter. Der ersten Dichtergeneration folgten die zweite und schließlich eine dritte. Und einmal mehr gebrauchte man die jüdische Sprache. Das Jüdische fand Verwendung bei Gemeindeangelegenheiten, was ein weiterer Grund dafür war, an seiner Entwicklung mitzuarbeiten, und zwar in der Weise, dass man Ordnung in die Sprache brachte, ihre Gesetze aufschrieb und die Schriftform regulierte. Und immer lauter tönte die Forderung, Jüdisch als eine besondere Sprache anzuerkennen.

Und heute erleben wir, dass Juden aus den verschiedensten Ländern zu uns kommen, um sich mit Stolz zu unserer Sprache zu bekennen, um sich zu beraten, was für unser geliebtes Jüdisch getan werden könne. Und wir haben das Glück, jene großen Schriftsteller unter uns zu haben, mit denen sogar die Gegner und Spötter unserer Sprache angeben und denen sie die größte Ehre erweisen.

Sie sehen, verehrte Gäste und Konferenzteilnehmer, dass uns die Lächerlichkeit nicht umgebracht hat, sie hat uns nicht einmal geschadet und wird es auch weiterhin nicht tun. Solange noch jeder für sich gekämpft hat, als Individuum, war nie ganz auszuschließen, wir verzehrten unsere Kräfte, unseren Mut und unsere Geduld. Jetzt aber, wo wir uns in aller Öffentlichkeit zusammengeschlossen haben, haben wir nichts mehr zu befürchten.

Wir haben nicht die Absicht, irgendwo anzuecken. Auch wenn unsere Gegner über uns herfallen, werden wir uns nicht beirren lassen. Sie können uns nicht schaden. Und wer uns mit Respekt begegnet, der verdient auch unsere Hochachtung. Das wichtigste aber ist, dass wir handeln, dass wir etwas tun, dass unsere Arbeit zum Erfolg führt.

Die kommenden fünf Tage können nur der Beginn unserer Arbeit sein, aber wir wissen auch, dass jeder Anfang schwer und mit großer Verantwortung verbunden ist.

*

Verehrte Gäste und Konferenzteilnehmer,

ich freue mich, hier so viele Freunde der jüdischen Sprache versammelt zu sehen, aber auch eine große Zahl derer, die sich eigentlich nicht so sehr dafür interessieren, was wir hier besprechen und anpacken wollen.

Ich danke Ihnen und begrüße Sie alle ganz herzlich. Insbesondere danke ich für die Auszeichnung, mit der uns … durch ihr Erscheinen ehren (… hier folgen Namen der angesehenen Czernowitzer Gäste, die zur Konferenz erschienen sind).

Ich danke auch denen, die an den Vorbereitungen zur Konferenz mitgewirkt haben, hauptsächlich der akademischen Verbindung „Jüdische Kultur“, deren Mitglieder sich außerordentlich selbstlos gezeigt haben. Lasst uns das fortführen, was sie begonnen haben!

Ich eröffne hiermit die erste Konferenz für jüdische Sprache!





Dr. Nathan Birnbaum (1864 - 1937), 30. August 1908



Bildquelle: www.ibiblio.org/yiddish/Tshernovits/
Textquelle: Die erste jüdische Sprachkonferenz. Berichte, Dokumente und Stimmen zur Czernowitzer Konferenz 1908. Bibliothek des Jiwo, Institut für Jüdische Wissenschaften, Philologische Sektion. Wilna 1931
Übersetzung: O.A.

די ערשטע יידישע שפּראַך-קאָנפערענץ
באַריכטן, דאָקומענטן און אָפקלאַנגען פון דער טשערנאָװיצער קאָנפערענצ 1908
װילנע 1931

Gelber Balken