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Lachen unter Tränen. Jüdisches Theater in Ostgalizien und der Bukowina
Die Theaterlandschaft des jüdischen Theaters in Czernowitz war zerklüftet, vielgesichtig und unübersichtlich. Sie verfügte über Jahrzehnte, das heißt bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, weder über ein festes Domizil, wie es etwa die deutschsprachige Bühne mit dem Neuen Stadttheater vorzuweisen hatte, noch über ein fest bestalltes örtliches Ensemble. Häuser und Spielstätten wechselten, wie sich andererseits das jüdische Theatergeschehen in der Stadt zu einem erheblichen Teil aus Gastspielen rekrutierte.
Die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit allerdings war mit Sicherheit größer, als sich aus der Exotik des Idioms, in dem die Stücke gespielt wurden, ableiten ließe. Dazu muss man wissen, dass mit dem Begriff des jüdischen Theaters nicht ein von den Juden der Stadt geführtes deutschsprachiges Theater gemeint sein kann, sondern ausschließlich Vorstellungen in jiddischer Sprache, wobei Jiddisch ein Begriff ist, den das Czernowitz der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg so nicht kannte. Die bedeutende und einzige Konferenz, die sich je mit dem Argot des Jiddischen, seiner gesellschaftlichen Entwicklung und Etablierung befasste, firmierte 1908 unter dem Titel einer "Jüdischen Sprachkonferenz".
Das stellte sich allerdings für den weitaus größten Teil der jüdischen Bevölkerung dieser Stadt nicht als Problem dar. Praktisch alle Juden mit deutscher Muttersprache beherrschten Deutsch und Jiddisch gleichermaßen, ein Umstand, der sich bis weit in die Neunziger des zurück liegenden Jahrhunderts erhalten hat.
Das Publikum, konstatiert Doris A. Karner in ihrem Werk, das als erster Band in der Reihe "Theaterspuren" in der Edition Steinbauer erschienen ist, unterschied sich grundlegend vom jenem, das sich aus dem Czernowitzer Bildungsbürgertum mit seiner Verehrung und Hinwendung zur deutschen Klassik rekrutierte. Die Juden der "Gass" waren oft nur halbgebildet und suchten im Theater Unterhaltung und Zerstreuung. Wenn überhaupt, verfügten sie über biblisch-talmudisches Wissen und verschlossen sich zum einem Teil auch der weltanschaulichen Öffnung, wie sie sich in den Theatern Osteuropas zu Beginn des letzten Jahrhunderts und in den Jahrzehnten davor zunehmend manifestierte. Nicht zuletzt aus diesem Grund kamen vorwiegend jiddische Theaterautoren zum Zug, die ihr Ohr an den Menschen der kleinen osteuropäischen Schtetl hatten. Wieweit das jüdische Publikum den proletarischen Kreisen zuzurechnen und lediglich hedonistisch ausgerichtet war, ist von heute aus und über den großen zeitlichen Abstand hinweg nur schwer auszumachen.
In einem zweiten, kleineren Teil des Bandes beschäftigt sich Karner mit dem jiddischen und jüdischen Theaterleben in Ostgalizien, insbesondere in Lemberg. Ebenso finden hebräischsprachige Gastspielensembles in Lemberg Berücksichtigung wie die Habimah und der Ohel. Hier zieht Karner neben jiddischen Pubklikationen und Periodika hauptsächlich polnische Quellen heran.
"Warum es ausgerechnet in Lemberg und Czernowitz relativ stabile jüdische Bühnen gab, ist leicht zu beantworten. Im Vergleich zu Wien, Prag und Berlin war das jüdische Theater dort kein Emigrantentheater und hatte somit Publikum, das sich langfristig an das Theater binden ließ." (Karner)
Mit Doris A. Karners Werk betreten wir die reich bevölkerte Bühne eines Theaterlebens, das mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust unwiederbringlich verloren ist. Mit ihrer Arbeit ist uns nunmehr ein tiefer und detaillierter Blick in eine Kulturlandschaft gestattet, die wir nicht allein wegen ihres vergänglichen Charakters schon verloren geglaubt hatten. Und das jüdische Theater braucht sich hinter der Literatur, die diese Landschaft hervorgebracht hat, nicht verstecken.
Verlagstexte
„Da begriff ich, dass diese Menschen das jüdische Theater brauchen, dass sie ein Lachen hören wollen, wie es im Burgtheater nie gelacht wird, dass sie Tränen sehen wollen, die einer Duse und einer Bernard nie über die Backen laufen. Sie wollen dieses Gemisch von Urlustigkeit, Urgescheitheit und Ursentimentalität. Sie wollen die resoluten Frauen und jovialen Männer und köstliche Schlemihl. Und der Teufel hol den, der ihnen die Lust nicht gönnt!"
Ursprünglich aus einem religiösen Umfeld entstanden, hat sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein eigenständiges jüdisches Theater entwickelt, das zunächst bestrebt war, von den Sorgen des Alltags abzulenken. Später ging es nicht mehr nur um Vergnügen: Die jüdische Theaterkultur spielte eine zunehmend wichtige Rolle bei der Entwicklung einer neuen jüdischen Identität und erlebte sogar vor dem Hintergrund des wachsenden Antisemitismus einen enormen künstlerischen Aufschwung. Das Buch schildert die Spielstätten in Lemberg und Czernowitz mit ihren zahlreichen Ensembles, den Gastspielen und Theaterstücken, ihren Schauspielern und Intendanten. Es zeigt anhand von Pressestimmen die Atmosphäre der Zeit und macht insofern die Wechselwirkung politischer und kultureller Entwicklung deutlich.
Dr. Doris A. Karner, Studium der Betriebswirtschaft, der Theater- und Politikwissenschaften in Wien. Seit 1993 Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Zweijährige Tätigkeit beim Österreichischen Versöhnungsfonds. Publizierte Beiträge über das jüdische und deutschsprachige Theater in Prag.
Doris A. Karner. Lachen unter Tränen. Jüdisches Theater in Ostgalizien und der Bukowina. Herausgegeben von der Armin Berg Gesellschaft. ISBN 3-902494-06-9
Edition Steinbauer. Wien 2005, broschiert 25,00 €