Inhalt
Buchvorstellung
Othmar Andrée
Josef Burg. Auf dem Czeremosz. Gift
Mottel Hofer ist Verwalter eines Sägewerks, einer Dampfbrettsäge, wie man diese Einrichtungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bezeichnete. Die liegt in den Waldkarpaten. Wieder einmal findet der Verwalter keinen Schlaf. Ihn beschäftigt die Figur des Alten Nikolai, ein Ukrainer vermutlich, ein Ruthene, wie man diese Menschen in den Zeiten Habsburgs nannte, oder auch ein Huzule, ein alter Mann, der als Nachtwächter im Sägewerk eingesetzt ist. Mottel traut diesem Mann nicht. Nie ist er sicher, ob sich Nikolai nicht irgendwo zwischen die Bretterstapel schlafen gelegt hat und das Sägewerk seinem ungewissen Schicksal überlässt, obwohl das nichts weiter ist als eine boshafte Unterstellung, verrichtet doch der Alte Nikolai seine Arbeit seit Jahren gewissenhaft. „Man muss ihn austauschen, ist schon zu alt, dieser Nikolai, alt, alt ...“
Die Bauern stehen für gewöhnlich Schlange um einen der begehrten, ordentlich bezahlten, aber knappen Arbeitsplätze zu ergattern. „Morgen oder übermorgen, momentan ist kein Bedarf!“, bekommen sie meistens zu hören und „begeben sich, rückwärts gehend, hinaus, als würden sie eine Kirche verlassen ...“, gehen zurück in ihre Dörfer, in denen Hunger und Elend herrschen. Der Verwalter Mottel erscheint den Bauern als eine Instanz, die unangreifbar über ihre Lebensverhältnisse und ihr Schicksal bestimmt, und können doch nicht sehen, dass dieser Verwalter selber in einem prekären, jederzeit auflösbaren Arbeitsverhältnis beim Sägewerksbesitzer Jenem steht.
Eines Tages wird Kolja, der „Kreisikant“, Hauptarbeiter und konkurrenzloser Fachmann für die Kreissägen, in die Kanzlei gerufen. Es soll länger gearbeitet werden, und Kolja habe dafür gerade zu stehen, dass man sich an die neuen Zeitvorgaben hält. Aber eigentlich geht es heute um etwas anderes. Der Verwalter Mottel hat Kolja rufen lassen, um ihm zu erklären, dass er, Kolja, nicht länger gebraucht würde und daher mit seiner Kündigung zu rechnen habe, sobald der neue, jüngere, der andere Kreisikant eingearbeitet sei. Mottel will gerade sein Anliegen vorbringen, da dringt von außen Lärm in die Kanzlei. Man bringt den neuen, den anderen Kreisikanten schwer verletzt herein. Einer seiner Arme ist ihm von den Maschinen bis zur Schulter abgetrennt worden. Diese schwere, tödliche Verletzung ist für Kolja nichts anderes als die Annullierung der Kündigung, die der Verwalter Mottel auszusprechen sich gerade angeschickt hat. „Hast Glück, Kolja! Ha?“, ist der einzige, hilflose und zugleich zynische Kommentar Mottels.
Josef Burgs Vater war Flößer auf dem Czeremosz, einem wilden, ungezügelten Fluss, der aus den Karpaten kommend durch Wiżnitz strömt. In Wiżnitz ist Burg aufgewachsen, das war 1912, also noch zur Kaiserzeit. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte die Bukowina zum Königreich Rumänien, und der Czeremosz war nicht mehr der Grenzfluss zu Galizien sondern zu Polen. An diese Flößer erinnert die Erzählung „Auf dem Floß“.
Der Vater erzählt Michaile, einem jungen, breitknochigen ruthenischen Bauernburschen und Helfer bei der schweren Arbeit des Flößens die Geschichte vom Greis. In einer sternenübersäten, mondhellen Nacht erscheint dem Vater - er war selbst noch ein junger Bursche - die Figur eines alten Mannes mit langem weißen Bart im schwarzem Kaftan, die wie aus den Flammen des Feuers auftaucht, das er vor seiner Flößerhütte unterhält. Der Greis starrt den Vater unablässig und mit aufmerksamen Augen an. Es ist eine Erscheinung zwischen Traum und Wirklichkeit, die wohl der schweren Arbeit, der Übermüdung und der jugendlichen Einbildungskraft des jungen Mannes zuzuschreiben ist. So gespannt zunächst der junge Michaile die Geschichte erwartet, so sehr langweilt sie ihn in ihrer Ereignislosigkeit. Am Ende gibt Michaile ein lang gezogenes Gähnen von sich, und sagt: „Fürchterlich, fürchterlich!“ Dann „wandte er seinen kleinen Augen zum Himmel und bekreuzigt sich dreimal.“
Die neun Erzählungen des Bändchens „Auf dem Czeremosz“ erschienen 1939 unter dem jiddischen Titel „ojfn tschermusch“ (טשערמוש אויפן). Bis auf ein einziges Exemplar, das sich heute im Österreichischen Literaturarchiv in Wien befindet, sind alle Originale verloren gegangen. Zusammen mit dem Band „Gift“ (1940, Originaltitel: ssam - סם), der das Schicksal seines Vorgängers teilt, werden Burgs Werke im Literaturverlag Hans Boldt in einer neu begonnenen Reihe „Der Erzähler Josef Burg“ in der Übersetzung von Armin Eidherr vorgestellt.
Wien 1938. SS-Gruppenführer Dr. Otmar von Werner wird, wie eine Wiener Zeitung zu berichten weiß, mit zerschmettertem Körper von Passanten auf dem Trottoir vor seinem Haus aufgefunden. Gründe für die Tat, so die Zeitung, sind nicht bekannt. Diese kurze Notiz steht für die persönlichen Abgründe, die Josef Burg in seiner Erzählung „Rasse“ ausleuchtet. Der SS-Mann Dr. Werner ist für die Aushebung der Juden nach den Matriklen der Einwohnermeldeämter zuständig. Bei seinen Recherchen stößt er auf seinen Großvater, Freiherr von Werner, vom Kaiser in den Adelsstand versetzt. Mit sechs Jahren konvertierte dessen Vater, also der Urgroßvater des SS-Mannes von 1938, jüdischer Advokat in einer ungarischen Provinzstadt zum katholischen Glauben. Es gibt diesem Mann die Gelegenheit, Richter auf dem Landgericht Wien zu werden.
Das Bändchen „Gift“ enthält zwei Erzählungen, die eben vorgestellte und eine weiter mit dem Titel „Ein Fremder“. Beide Erzählungen erschienen 1940 unter dem Titel „Ssam“, das hebräisch-jiddische Wort für Gift.
An den Sprachduktus, die Überzeugungskraft und Lakonie des Bandes „Auf dem Czeremosz“ reichen die beiden Erzählungen von „Ssam“ nicht heran. Aber das eine wie das andere Bändchen macht deutlich, wie der heute knapp 94-jährige Josef Burg hoffnungsvoll eine Autorenkarriere begann, während die Zeitläufte ihr zerstörerisches Werk in Gang setzten.
Josef Burg: Auf dem Czeremosz. Erzählungen. Nach der Originalausgabe ojfn tschermusch 1939. Aus dem Jiddischen von Armin Eidherr. Winsen/Luhe: Hans Boldt Verlag 2005. 50 S. ISBN 3-928788-50-7
€ 9,90
Josef Burg: Gift. Zwei Erzählungen. Nach der Originalausgabe ssam 1940. Aus dem Jiddischen von Armin Eidherr. Winsen/Luhe: Hans Boldt Verlag 2005. 32 S.
ISBN 3-928788-51-5
€ 8,50
Die Bauern stehen für gewöhnlich Schlange um einen der begehrten, ordentlich bezahlten, aber knappen Arbeitsplätze zu ergattern. „Morgen oder übermorgen, momentan ist kein Bedarf!“, bekommen sie meistens zu hören und „begeben sich, rückwärts gehend, hinaus, als würden sie eine Kirche verlassen ...“, gehen zurück in ihre Dörfer, in denen Hunger und Elend herrschen. Der Verwalter Mottel erscheint den Bauern als eine Instanz, die unangreifbar über ihre Lebensverhältnisse und ihr Schicksal bestimmt, und können doch nicht sehen, dass dieser Verwalter selber in einem prekären, jederzeit auflösbaren Arbeitsverhältnis beim Sägewerksbesitzer Jenem steht.
Eines Tages wird Kolja, der „Kreisikant“, Hauptarbeiter und konkurrenzloser Fachmann für die Kreissägen, in die Kanzlei gerufen. Es soll länger gearbeitet werden, und Kolja habe dafür gerade zu stehen, dass man sich an die neuen Zeitvorgaben hält. Aber eigentlich geht es heute um etwas anderes. Der Verwalter Mottel hat Kolja rufen lassen, um ihm zu erklären, dass er, Kolja, nicht länger gebraucht würde und daher mit seiner Kündigung zu rechnen habe, sobald der neue, jüngere, der andere Kreisikant eingearbeitet sei. Mottel will gerade sein Anliegen vorbringen, da dringt von außen Lärm in die Kanzlei. Man bringt den neuen, den anderen Kreisikanten schwer verletzt herein. Einer seiner Arme ist ihm von den Maschinen bis zur Schulter abgetrennt worden. Diese schwere, tödliche Verletzung ist für Kolja nichts anderes als die Annullierung der Kündigung, die der Verwalter Mottel auszusprechen sich gerade angeschickt hat. „Hast Glück, Kolja! Ha?“, ist der einzige, hilflose und zugleich zynische Kommentar Mottels.
Josef Burgs Vater war Flößer auf dem Czeremosz, einem wilden, ungezügelten Fluss, der aus den Karpaten kommend durch Wiżnitz strömt. In Wiżnitz ist Burg aufgewachsen, das war 1912, also noch zur Kaiserzeit. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte die Bukowina zum Königreich Rumänien, und der Czeremosz war nicht mehr der Grenzfluss zu Galizien sondern zu Polen. An diese Flößer erinnert die Erzählung „Auf dem Floß“.
Der Vater erzählt Michaile, einem jungen, breitknochigen ruthenischen Bauernburschen und Helfer bei der schweren Arbeit des Flößens die Geschichte vom Greis. In einer sternenübersäten, mondhellen Nacht erscheint dem Vater - er war selbst noch ein junger Bursche - die Figur eines alten Mannes mit langem weißen Bart im schwarzem Kaftan, die wie aus den Flammen des Feuers auftaucht, das er vor seiner Flößerhütte unterhält. Der Greis starrt den Vater unablässig und mit aufmerksamen Augen an. Es ist eine Erscheinung zwischen Traum und Wirklichkeit, die wohl der schweren Arbeit, der Übermüdung und der jugendlichen Einbildungskraft des jungen Mannes zuzuschreiben ist. So gespannt zunächst der junge Michaile die Geschichte erwartet, so sehr langweilt sie ihn in ihrer Ereignislosigkeit. Am Ende gibt Michaile ein lang gezogenes Gähnen von sich, und sagt: „Fürchterlich, fürchterlich!“ Dann „wandte er seinen kleinen Augen zum Himmel und bekreuzigt sich dreimal.“
Die neun Erzählungen des Bändchens „Auf dem Czeremosz“ erschienen 1939 unter dem jiddischen Titel „ojfn tschermusch“ (טשערמוש אויפן). Bis auf ein einziges Exemplar, das sich heute im Österreichischen Literaturarchiv in Wien befindet, sind alle Originale verloren gegangen. Zusammen mit dem Band „Gift“ (1940, Originaltitel: ssam - סם), der das Schicksal seines Vorgängers teilt, werden Burgs Werke im Literaturverlag Hans Boldt in einer neu begonnenen Reihe „Der Erzähler Josef Burg“ in der Übersetzung von Armin Eidherr vorgestellt.
Wien 1938. SS-Gruppenführer Dr. Otmar von Werner wird, wie eine Wiener Zeitung zu berichten weiß, mit zerschmettertem Körper von Passanten auf dem Trottoir vor seinem Haus aufgefunden. Gründe für die Tat, so die Zeitung, sind nicht bekannt. Diese kurze Notiz steht für die persönlichen Abgründe, die Josef Burg in seiner Erzählung „Rasse“ ausleuchtet. Der SS-Mann Dr. Werner ist für die Aushebung der Juden nach den Matriklen der Einwohnermeldeämter zuständig. Bei seinen Recherchen stößt er auf seinen Großvater, Freiherr von Werner, vom Kaiser in den Adelsstand versetzt. Mit sechs Jahren konvertierte dessen Vater, also der Urgroßvater des SS-Mannes von 1938, jüdischer Advokat in einer ungarischen Provinzstadt zum katholischen Glauben. Es gibt diesem Mann die Gelegenheit, Richter auf dem Landgericht Wien zu werden.
Das Bändchen „Gift“ enthält zwei Erzählungen, die eben vorgestellte und eine weiter mit dem Titel „Ein Fremder“. Beide Erzählungen erschienen 1940 unter dem Titel „Ssam“, das hebräisch-jiddische Wort für Gift.
An den Sprachduktus, die Überzeugungskraft und Lakonie des Bandes „Auf dem Czeremosz“ reichen die beiden Erzählungen von „Ssam“ nicht heran. Aber das eine wie das andere Bändchen macht deutlich, wie der heute knapp 94-jährige Josef Burg hoffnungsvoll eine Autorenkarriere begann, während die Zeitläufte ihr zerstörerisches Werk in Gang setzten.
Josef Burg: Auf dem Czeremosz. Erzählungen. Nach der Originalausgabe ojfn tschermusch 1939. Aus dem Jiddischen von Armin Eidherr. Winsen/Luhe: Hans Boldt Verlag 2005. 50 S. ISBN 3-928788-50-7
€ 9,90
Josef Burg: Gift. Zwei Erzählungen. Nach der Originalausgabe ssam 1940. Aus dem Jiddischen von Armin Eidherr. Winsen/Luhe: Hans Boldt Verlag 2005. 32 S.
ISBN 3-928788-51-5
€ 8,50