Inhalt
Buchvorstellung
Othmar Andrée
Die Auswanderung im Blick
Als Zvi Yavetz am 26. April 1925 als Harry Zucker und einziges Kind des Leo Zucker und der Amalie Jawetz in Czernowitz zur Welt kommt, ist die Stadt östlich der Waldkarpaten rumänisch. Das Geburtshaus liegt etwas außerhalb, in der Ziegeleigasse, seinerzeit Strada Caragiale, unweit des Bahnhofs. Die Gasse rechnete sich zu einem Stadtrayon, den Yavetz in seinem Buch nicht wenig geistreich mit Niederczernowitz etikettiert.
Die Rolle des Familienoberhauptes übernimmt nach dem Selbstmord des Vaters die Mutter und deren Eltern. Der kleine Harry Zucker wird umsorgt und geliebt. Großvater, Moses Jawetz, ist ein eleganter, gebildeter Mann, Buchalter, "Freidenker, kompromissloser Zionist", der sich aber keiner politischen Richtung verpflichtet fühlt und fließend Hebräisch spricht, durchaus keine Selbstverständlichkleit im Czernowitz der 1930er Jahre. Mit seinem Enkel unterhält er sich "ausschließlich auf Hebräisch".
Bereits mit zwölf Jahren treibt Yavetz die Sehnsucht nach Erez Israel um. Nichts beschäftigt ihn so sehr wie die Auswanderung ins gelobte Land. "Ich war wie besessen und sah mich bereits in einer landwirtschaftlichen Schule in Palästina. Die Auswanderung nach Palästina wurde für mich zur fixen Idee." Tatsächlich aber fühlen sich die Menschen, für die eine solche Auswanderung in Frage kommt, unsicher und allein gelassen. Für ein Einwanderungszertifikat müssen 1000 englische Pfund aufgebracht werden, Geld, über das man kaum verfügt. Vielfach sind auch die Nachrichten aus Palästina selbst bedrückend. "Die wirtschaftliche Lage sei schlecht," erinnert sich Yavetz an die Einschätzung seines Großvaters, "und die blutigen Zusammenstöße mit den Arabern seit 1936 machten das Leben unsicher. Die Kinder hinzuschicken sei gefährlicher, als sie in Rumänien zu behalten."
Vermutlich 1939 versucht Yavetz in der zionistischen Jugendbewegung Fuß zu fassen, und das tut er im Hanoar Hazioni. "Die allgemeine Lage im Dezember 1941 war trostlos, mehr noch - verzweifelt ... Ich aber ging nicht verloren. Wer mir dazu verhalf, waren eben die Mitglieder der Jugendbewegung Hanoar Hazioni; ihre Freundschaft, Liebenswürdigkeit, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft waren grenzenlos. Sie ließen mich nie allein. ..." Die Bewegung ist eine der rund ein halbes Dutzend umfassenden Organisationen, die im Schatten des Haschomer Hazair, Flaggschiff der zionistischen Jugenbewegungen in der Bukowina den Pioniergeist pflegen "aus dessen Reihen in den 20er Jahren viele vom zionistischen Ideal durchdrungene Menschen nach Erez Israel gehen".
In der Ziegeleigasse ist man polyglott. Man spricht Deutsch, die Umgangs-, Amts- und Verkehrssprache in der Bukowina bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Die Großmutter beherrscht Polnisch, die Mutter Hebräisch, ein wenig versteht man das Ukrainische, und man lernt - das gilt in der Hauptsache für die heranwachsende Generation - Rumänisch. Und natürlich spricht und versteht man Jiddisch. Einmal heißt es über einen "großen Familienrat" 1938: "Alle sprachen jiddisch, nur meine Mutter und Mendel [ein jüngerer Bruder des Vaters] benutzten die deutsche Sprache."
"Die Begriffe "Nieder- und Oberczernowitz" habe ich erfunden ...", schreibt Yavetz an anderer Stelle. Tatsächlich existiert dieser Topos in der Literatur und im Bewusstsein der Czernowitzer Bevölkerung nicht. Aber kein anderer Begriff bringt das Verhältnis von gesellschaftlichem Rang und Wohnsitz, vom Streben nach Anerkennung und von den Anstrengungen, es im Leben zu was zu bringen, so unmittelbar auf den Punkt. Oben, auf den "sieben Hügeln", im Stadtkern, residiert die bürgerlich-liberale, wohlhabende, sich am europäischen Kulturraum orientierende und deutsch sprechende Oberschicht der Czernowitzer Juden, am Rande der Stadt, etwa in der Ziegeleigasse, und das ist in Czernowitz auch im topografischen Sinne überwiegend unten, sind die einfachen Handwerker, Arbeiter und Bediensteten zuhause.
Und doch wäre es abwegig, die Familie Jawetz dem Proletariat oder Kleinbürgertum zuschlagen zu wollen. So schicken die Jawetz' ihren Sohn auf eine Eliteschule, später aufs Gymnasium. Man lässt den kleinen Harry Klavierstunden nehmen und hat sogar ein Klavier im Hause. Man liest viel und gern, und zwar die deutschen und jiddischen Klassiker, aber auch die hebräische Bibel.
Wollte man die Entwicklungslinien der rumänischen Politik zwischen den beiden großen Kriegen nachzeichnen und ihre Auswirkungen auf das von Habsburg verlassene Czernowitz sichtbar werden lassen, genügt gewiss nicht die Lektüre der Bukowiner Zeitungen. Andererseits gibt Yavetz mit einem Blick auf die Lebenshaltungskosten, die Einkommensverhältnisse, auf die Praxis der Steuererhebung und Theaterszenerie, auf die Zusammensetzung und Wahl zur jüdischen Kultusgemeinde oder auf die Lesegewohnheiten der Czernowitzer Juden im Jahre 1937 ein lebensnahes und zuweilen recht unterhaltsames Bild der Menschen, ihrer Befindlichkeit und Lebensgewohnheiten.
Bedauerlich, dass das Buch so miserabel lektoriert ist - als wären dem renommierten Verlag C.H. Beck über Nacht die Lektoren ausgegangen. Es ist ein einziges editorisches Ärgernis. Nicht nur wird die Lyrik deutscher Klassiker fehlerhaft zitiert, es trifft auch Paul Celan, den großen Sohn der Stadt. Solcherart Nachlässigkeiten reichen bis zu den Straßen- und Familiennamen hinunter. Der Austriaplatz war in der Rumänenzeit nach Ghica Vodă benannt, nicht nach dem Sportverein Dragoş Vodă. Die Ziegeleigasse wird gelegentlich zur Ziegelgasse, und mit dem Makkabiplatz verweist das Buch auf eine unauffindbare Karte. Der große Schriftsteller im Wiener Café Central war Friedrich Torberg, nicht Victor Torberg, der sowjetische Geheimdienst der NKWD, nicht die NKVD, das Attentat von 1938 auf den deutschen Botschaftssekretär in Paris wurde nicht von Grünspan sondern von Herschel Grynszpan verübt.
Angefügt: Die Arbeiten zur Asphaltierung einiger Czernowitzer Gassen haben 1937 - wenn davon schon die Rede ist - einen Umfang von 20.000 Quadratkilometern, immerhin die zweifache Fläche der ganzen Bukowina! Das ließe sich nun beliebig fortsetzen bis in die Diktion, die russischsprachige, christlich-orthodoxe Glaubensgemeinschaft der Lipowaner sei ein "russischer Stamm" - oder Scholem Alejchem, Klassiker der jiddischen Literatur, ein "jiddischer Humorist".
Resümierend aber haben wir es über Strecken mit einer gut lesbaren, unterhaltsamen, nicht selten vergnüglichen, humorvollen, unprätentiösen Binnensicht auf eine Jugend im Czernowitz der Zwanziger und Dreißiger des vorigen Jahrhunderts zu tun, die für ein Nachempfinden, für das Hineinfühlen in die Befindlichkeit der Menschen jener Zeit einen wichtigen Beitrag leistet. Sie lässt sich unschwer mit Dorothea Sellas Romantrilogie, Hedwig Brenners Familiengeschichte oder Margit Bartfeld-Fellers Erinnerungen in eine Reihe stellen.
Obwohl Czernowitz nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur für die dort lebenden Juden kulturell und sozial in Bedrängnis geraten war und die Menschen mit einer ganzen Palette von Widrigkeiten des Alltags zu kämpfen hatten, schauen wir auf ein vorwärts strebendes, wirtschaftlich relativ erfolgreiches Gemeinwesen. Und wir erleben einen Jungen und Heranwachsenden, der mitten im Leben steht und den zugleich staatsgründende Ziele und Visionen umtreiben, als der Rest der jüdischen Bevölkerung noch der Monarchie nachhing, die deutschen Klassiker verehrte und weder spürte noch ahnte, auf welch verlorenem Posten man stand. Was an Energie und Unbeugsamkeit des Willens es dazu braucht, welchen Kopf, das zeigt uns Zvi Yavetz mit dem Rückblick auf seine Jugend in Czernowitz.
Zvi Yavetz. Erinnerungen an Czernowitz. Wo Menschen und Bücher lebten.
Verlag C.H. Beck, München 2007.
Mit 15 Abbildungen und 2 Karten. 254 Seiten.
ISBN-13: 978 3 406 55747 7
Die Rolle des Familienoberhauptes übernimmt nach dem Selbstmord des Vaters die Mutter und deren Eltern. Der kleine Harry Zucker wird umsorgt und geliebt. Großvater, Moses Jawetz, ist ein eleganter, gebildeter Mann, Buchalter, "Freidenker, kompromissloser Zionist", der sich aber keiner politischen Richtung verpflichtet fühlt und fließend Hebräisch spricht, durchaus keine Selbstverständlichkleit im Czernowitz der 1930er Jahre. Mit seinem Enkel unterhält er sich "ausschließlich auf Hebräisch".
Bereits mit zwölf Jahren treibt Yavetz die Sehnsucht nach Erez Israel um. Nichts beschäftigt ihn so sehr wie die Auswanderung ins gelobte Land. "Ich war wie besessen und sah mich bereits in einer landwirtschaftlichen Schule in Palästina. Die Auswanderung nach Palästina wurde für mich zur fixen Idee." Tatsächlich aber fühlen sich die Menschen, für die eine solche Auswanderung in Frage kommt, unsicher und allein gelassen. Für ein Einwanderungszertifikat müssen 1000 englische Pfund aufgebracht werden, Geld, über das man kaum verfügt. Vielfach sind auch die Nachrichten aus Palästina selbst bedrückend. "Die wirtschaftliche Lage sei schlecht," erinnert sich Yavetz an die Einschätzung seines Großvaters, "und die blutigen Zusammenstöße mit den Arabern seit 1936 machten das Leben unsicher. Die Kinder hinzuschicken sei gefährlicher, als sie in Rumänien zu behalten."
Vermutlich 1939 versucht Yavetz in der zionistischen Jugendbewegung Fuß zu fassen, und das tut er im Hanoar Hazioni. "Die allgemeine Lage im Dezember 1941 war trostlos, mehr noch - verzweifelt ... Ich aber ging nicht verloren. Wer mir dazu verhalf, waren eben die Mitglieder der Jugendbewegung Hanoar Hazioni; ihre Freundschaft, Liebenswürdigkeit, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft waren grenzenlos. Sie ließen mich nie allein. ..." Die Bewegung ist eine der rund ein halbes Dutzend umfassenden Organisationen, die im Schatten des Haschomer Hazair, Flaggschiff der zionistischen Jugenbewegungen in der Bukowina den Pioniergeist pflegen "aus dessen Reihen in den 20er Jahren viele vom zionistischen Ideal durchdrungene Menschen nach Erez Israel gehen".
In der Ziegeleigasse ist man polyglott. Man spricht Deutsch, die Umgangs-, Amts- und Verkehrssprache in der Bukowina bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Die Großmutter beherrscht Polnisch, die Mutter Hebräisch, ein wenig versteht man das Ukrainische, und man lernt - das gilt in der Hauptsache für die heranwachsende Generation - Rumänisch. Und natürlich spricht und versteht man Jiddisch. Einmal heißt es über einen "großen Familienrat" 1938: "Alle sprachen jiddisch, nur meine Mutter und Mendel [ein jüngerer Bruder des Vaters] benutzten die deutsche Sprache."
"Die Begriffe "Nieder- und Oberczernowitz" habe ich erfunden ...", schreibt Yavetz an anderer Stelle. Tatsächlich existiert dieser Topos in der Literatur und im Bewusstsein der Czernowitzer Bevölkerung nicht. Aber kein anderer Begriff bringt das Verhältnis von gesellschaftlichem Rang und Wohnsitz, vom Streben nach Anerkennung und von den Anstrengungen, es im Leben zu was zu bringen, so unmittelbar auf den Punkt. Oben, auf den "sieben Hügeln", im Stadtkern, residiert die bürgerlich-liberale, wohlhabende, sich am europäischen Kulturraum orientierende und deutsch sprechende Oberschicht der Czernowitzer Juden, am Rande der Stadt, etwa in der Ziegeleigasse, und das ist in Czernowitz auch im topografischen Sinne überwiegend unten, sind die einfachen Handwerker, Arbeiter und Bediensteten zuhause.
Und doch wäre es abwegig, die Familie Jawetz dem Proletariat oder Kleinbürgertum zuschlagen zu wollen. So schicken die Jawetz' ihren Sohn auf eine Eliteschule, später aufs Gymnasium. Man lässt den kleinen Harry Klavierstunden nehmen und hat sogar ein Klavier im Hause. Man liest viel und gern, und zwar die deutschen und jiddischen Klassiker, aber auch die hebräische Bibel.
Wollte man die Entwicklungslinien der rumänischen Politik zwischen den beiden großen Kriegen nachzeichnen und ihre Auswirkungen auf das von Habsburg verlassene Czernowitz sichtbar werden lassen, genügt gewiss nicht die Lektüre der Bukowiner Zeitungen. Andererseits gibt Yavetz mit einem Blick auf die Lebenshaltungskosten, die Einkommensverhältnisse, auf die Praxis der Steuererhebung und Theaterszenerie, auf die Zusammensetzung und Wahl zur jüdischen Kultusgemeinde oder auf die Lesegewohnheiten der Czernowitzer Juden im Jahre 1937 ein lebensnahes und zuweilen recht unterhaltsames Bild der Menschen, ihrer Befindlichkeit und Lebensgewohnheiten.
Bedauerlich, dass das Buch so miserabel lektoriert ist - als wären dem renommierten Verlag C.H. Beck über Nacht die Lektoren ausgegangen. Es ist ein einziges editorisches Ärgernis. Nicht nur wird die Lyrik deutscher Klassiker fehlerhaft zitiert, es trifft auch Paul Celan, den großen Sohn der Stadt. Solcherart Nachlässigkeiten reichen bis zu den Straßen- und Familiennamen hinunter. Der Austriaplatz war in der Rumänenzeit nach Ghica Vodă benannt, nicht nach dem Sportverein Dragoş Vodă. Die Ziegeleigasse wird gelegentlich zur Ziegelgasse, und mit dem Makkabiplatz verweist das Buch auf eine unauffindbare Karte. Der große Schriftsteller im Wiener Café Central war Friedrich Torberg, nicht Victor Torberg, der sowjetische Geheimdienst der NKWD, nicht die NKVD, das Attentat von 1938 auf den deutschen Botschaftssekretär in Paris wurde nicht von Grünspan sondern von Herschel Grynszpan verübt.
Angefügt: Die Arbeiten zur Asphaltierung einiger Czernowitzer Gassen haben 1937 - wenn davon schon die Rede ist - einen Umfang von 20.000 Quadratkilometern, immerhin die zweifache Fläche der ganzen Bukowina! Das ließe sich nun beliebig fortsetzen bis in die Diktion, die russischsprachige, christlich-orthodoxe Glaubensgemeinschaft der Lipowaner sei ein "russischer Stamm" - oder Scholem Alejchem, Klassiker der jiddischen Literatur, ein "jiddischer Humorist".
Resümierend aber haben wir es über Strecken mit einer gut lesbaren, unterhaltsamen, nicht selten vergnüglichen, humorvollen, unprätentiösen Binnensicht auf eine Jugend im Czernowitz der Zwanziger und Dreißiger des vorigen Jahrhunderts zu tun, die für ein Nachempfinden, für das Hineinfühlen in die Befindlichkeit der Menschen jener Zeit einen wichtigen Beitrag leistet. Sie lässt sich unschwer mit Dorothea Sellas Romantrilogie, Hedwig Brenners Familiengeschichte oder Margit Bartfeld-Fellers Erinnerungen in eine Reihe stellen.
Obwohl Czernowitz nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur für die dort lebenden Juden kulturell und sozial in Bedrängnis geraten war und die Menschen mit einer ganzen Palette von Widrigkeiten des Alltags zu kämpfen hatten, schauen wir auf ein vorwärts strebendes, wirtschaftlich relativ erfolgreiches Gemeinwesen. Und wir erleben einen Jungen und Heranwachsenden, der mitten im Leben steht und den zugleich staatsgründende Ziele und Visionen umtreiben, als der Rest der jüdischen Bevölkerung noch der Monarchie nachhing, die deutschen Klassiker verehrte und weder spürte noch ahnte, auf welch verlorenem Posten man stand. Was an Energie und Unbeugsamkeit des Willens es dazu braucht, welchen Kopf, das zeigt uns Zvi Yavetz mit dem Rückblick auf seine Jugend in Czernowitz.
Zvi Yavetz. Erinnerungen an Czernowitz. Wo Menschen und Bücher lebten.
Verlag C.H. Beck, München 2007.
Mit 15 Abbildungen und 2 Karten. 254 Seiten.
ISBN-13: 978 3 406 55747 7