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Czernowitz Tomorrow - Die andere Sprache
Das Buch entstand anlässlich der "International Summer Academy of Architecture and Urban Regeneration in Chernivtsi 2006" und der Ausstellung "Czernowitz Tomorrow - Ideas for the City of Chernivtsi" und stellt gleichsam den Katalog zur Ausstellung dar. Teilnehmer von Akademie und Ausstellung waren die Universität der Künste Berlin, die Technische Universität Graz, das Černivec'kij politechničnij technikum, das Polytechnikum Czernowitz (Чернівецький політехнічний технікум) und die Universitatea de Arhitectură şi Urbanism Ion Mincu Bukarest. Die Sommerakademie geht auf eine Initiative Günter Zamp Kelps zurück, Inhaber des Lehrstuhls für Gebäudeplanung, Raumgestaltung und Vermittlungstechnik, Berlin. Zur Teilnahme am Projekt waren Studenten der genannten Universitäten und Bildungsstätten geladen, die sich - organisiert in Gruppen zu je acht Studenten - zwei Jahre lang auf ihre Aufgaben vorbereitet und mit dem Gegenstand beschäftigt haben.
Die eigentlichen, tieferen Beweggründe, sich mit dem Projekt ausgerechnet dieser intakten habsburgisch-jüdisch, rumänisch-ukrainischen Stadt anzudienen, liegen, wie Werner Sewing, ausgewiesener Architektursoziologe einleitend ausführt, im Spannungsfeld der Dopppelexistenz der Stadt als Mythos und realer Ort, als aus Text und Wort erzeugtes virtuelles Bild und "soziale Stenographie der Stadtgesellschaft". Wenn die reale Stadt, so Sewing, sich nicht im Imaginären verlieren will, ihre Funktionalität an natürliche Grenzen stößt, geht es um die Sicherung ihrer Vitalität und um die Idee ihrer städtebaulichen Zukunft. Sewing spricht von der "Vision einer Wissenschaftsstadt" als einem der Wege, die in die Zukunft weisen. Ihre Wurzel, so gesehen auch ihr Ideal, sei noch immer das alte intellektuelle Czernowitz.
Wie Julia Lienemeyer, UdK Berlin, ausführt, wolle man am Beispiel Czernowitz' "die Vielschichtigkeit des kulturellen Erbes Europas untersuchen und die Rolle der Architektur und des Städtebaus als kulturellem Bindeglied zwischen Ost und West ausloten" ... "Jede Epoche", so Lienemeyer, "hat ihre Spuren hinterlassen, die im gegenwärtigen Stadtbild deutlich ablesbar sind. Diese architektonische Vielfalt lässt den Rückschluss zu, dass die Stadtgesellschaft es trotz ihrer zahlreichen Ethnien, Konfessionen und Sprachen verstanden hat, die jeweiligen Repräsentationsansprüche zu moderieren und zu integrieren." Architekten interessiere dabei die Rolle der Architektur als Überbringer der Vergangenheit, als Hülle der Gegenwart und als Identität stiftendes Medium für die Zukunft.
Neben den gebäudeplanerischen Entwürfen entstanden bereits 2004 Vorschläge für temporäre Installationen im und in unmittelbarer Nähe zum historischen Kern der Stadt. Dazu rechnete sich das Entwurfsprojekt eines Kulturbahnhofs unter dem Schlagwort "Radio Czernowitz", ein Workshop für Theater und Tanz am Theaterplatz mit dem schönen Titel "Spielwiese", schließlich das Konzept eines Kultur- und Medienzentrums auf einer Brache hinter dem Rumänischen Kulturpalast. Dieser letzte Entwurf, eine Diplomarbeit von Kathrin Lind, funktional überzeugend und durchdacht, soll einen Teil des Stadtarchivs aufnehmen. Der Entwurf ist in die Strategie eingebunden, die städtischen Archive neu zu ordnen und zu öffnen und in das "stadträumliche Wissens- und Gedächtnisnetzwerk" einzubinden. Wer die gegenwärtige Archivsituation in der ehemaligen Jesuitenkirche kennt, weiß um die Notwendigkeit einer Neuordnung der regionalen und städtischen Archivbestände.
Die Sommerakademie 2006 beschäftigte sich mit vier Projekten. Eines war der 1907, also noch in der Zeit der Habsburgermonarchie errichtete Bahnhof und seine Umgebung. Unter dem Begriff "Borderline" möchte man diesen Bahnhof zu einem modernen, leistungsfähigen Verkehrszentrum ausbauen, besser an die Stadt anbinden und ihm einen Busbahnhof angliedern. Zugleich will man einen Teil der bahnhofsnahen Industriebrachen erschließen. Die Anbindung an den historischen Stadtkern soll über eine Seilbahn erfolgen, die den Steilhang der ehemaligen Göbelshöhe überwindet. Das zweite Projekt sieht die Errichtung einer internationalen Europa-Universität auf einem Gelände nördlich des Pruth vor. Danach wird die künftige Universität durch eine Brücke mit der bahnhofsnahen Industriezone verbunden.
Als weiteres Projekt hat sich die Sommerakademie den Kalinivski-Markt vorgenommen, eine Schöpfung der postsowjetischen Ära. Die Projektgruppe sieht den Markt als bedeutenden Standort der regionalen Wirtschaft. Er habe sich als städtisches Zentrum etabliert, heißt es. Ihn als Übergangserscheinung hinzunehmen, sei ein Fehler und ließe eine Chance für die Entwicklung der Stadt ungenutzt verstreichen. Schließlich möchte man dem Wohnviertel um den Nesaleschnosti Prospekt (Незалежності проспект) mit seinen "industriell gefertigten Gebäuden" frische Farbe zukommen lassen und neu möblieren. Das soll durch sensible Eingriffe in die Bausubstanz der 1970er und -achtziger Jahre geschehen.
Die Arbeiten der Sommerakademie können nicht verhehlen, wie ratlos letztlich die Studenten und ihr fachlicher Beistand dem baulichen Gesamtkunstwerk Czernowitz gegenüber stehen. Nehmen wir etwa Borderline: Man hätte sich nichts sehnlicher gewünscht als eine sensible, umsichtige Adaption an die Gehäuse, die Schalen ehemaliger, längst aufgegebener Industriebetriebe aus sämtlichen Entwicklungsepochen der Stadt - bis hinein in die Sowjetära, Gebäude, wie sie sich immer wieder im Industrieareal nördlich des Bahnhofs finden. Stattdessen lässt man das alles links liegen und trägt der Stadt wieder die üblichen, nur allzu bekannten Versatzstücke aus der globalen Glasmenagerie der Architektur an. Oder dies, die Europa-Uni: Starre, schwarze (Czernowitz, die černo misto, die schwarze Stadt?) Monolithe, die sich im Nichts verlieren. Zwischen der, wie Werner Sewing sie charakterisiert, "intakten habsburgischen Stadt aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende" und den Ideen der Studenten klafft ein unauslotbarer Abgrund. Eine mentale Annäherung an den historischen Korpus - ja, wie sollte sie auch aussehen? - wird gar nicht erst versucht. Ein wirkliches Gespräch findet nicht statt.
Czernowitz ist in dieser Hinsicht kein Sonderfall. Das "Aneinander-vorbei-reden", dieser Doppelmonolog hat sich im Städtebau überall dort etabliert, wo das Neue dem Alten begegnet, der Historismus der Moderne. Das ergibt sich aus dem Umstand, dass die Architektur der Moderne soziologisch wie gesamtgesellschaftlich in völlig anderer Weise in den Mechanismus und die Struktur des Städtebaues eingebunden ist als die Stilrichtungen etwa der vorletzten Jahrhundertwende. Diesen widerspricht sie. Sie artikuliert sich vom ästhetischen Standpunkt aus vollkommen konträr.
Das Neue, das Erdachte ist keines der Bürger mehr, der Handwerker, der Gewerbetreibenden, der kleinen Leute, keines der Bau- und Maurermeister und Poliere von 1910. Es schöpft aus einem anderen Fundus, aus einer anderen Vorstellungswelt, wie seine Baustoffe nach dem Industriellen greifen: Stahl und Glas, Bleche, Textilgewebe, Beton. Selten nur Klinker, Sandstein, Kalkputz, Holz - verarbeitet und angewendet im Prozess tradierter handwerklicher Fertigung. Beides, Ästhetik und geformtes Material bezeugen, dass die neuen städtebaulichen Additive, die Zufügungen des 20. und 21. Jahrhunderts ausschließlich im Intellektuellen verhandelt werden. Sie haben sich dem Handwerk bis zur Unkenntlichkeit entfremdet.
So sprechen die Pläne und die Architektur der Sommerakademie eine neue, eine völlig andere Sprache, wie den Entwürfen eine gewandelte Dynamik und eine eigene Hierarchie der Verantwortlichkeiten inne wohnen. Während das Alte aus dem Boden wächst, gewichtig, schwer, erdverbunden, immobil, organisch, kommt das Neue herein geschwebt, und zwar von oben, aus der Luft. Es lässt sich nieder, bereit, jederzeit abzuheben. Es suggeriert eine Leichtigkeit und Mobilität, über die es weder verfügt noch die es eigentlich braucht. Zugleich offeriert es einen Ideenraum, in dem sich zwei Gründungsmythen des Funktionalismus (Luis Fernández-Galiano) verdichten: Wiederholung und Effizienz durch Standardisierung und Beweglichkeit. Damit konterkariert es die tradierten Vorstellungen vom Bauen bis ins Absolute hinein. Es stellt sie gleichsam auf den Kopf. Das Neue kommt uns nicht mit Gebäuden im klassischen Sinne, vielmehr liefert es "Setzstücke", Gehäuse, Boxen, Koffer, Zelte, Skulpturen, Container (nachzulesen und in Augenschein zu nehmen bei Emil Ivanescu und seiner Arbeit über den Kalinivski-Markt). Alles Schwere, alles Gewichtige, die Gravität einer Natursteinfassade etwa, wird ästhetisch gebrochen und widerlegt sich selbst.
Was dabei herauskommt, wie das Neue sich dem Alten stellt, sich mit ihm verträgt, mit ihm zusammen geht: hier kann man es sehen, der Band zeigt es. Es sind Zufügungen, die auf den Charakter und das Profil der historischen Stadt massiv Einfluss nehmen und dem einen wie dem anderen unentwegt ins Wort fallen.
Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass die Bürger, die Einwohner dieser Stadt nicht an der Wende vom Neunzehnten zum Zwanzigsten Jahrhundert, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stehen geblieben sind. Auch sie trägt längst ein neues, ein gewandeltes Verständnis, ein erneuerter, ein aktueller Begriff vom Bauen und Wohnen. Wenn man Vorschläge unterbreitet, die Frage stellt, wo es denn hinaus will mit dem Czernowitz tomorrow, wieweit die Bürger mitzugehen gewillt sind, was sie sich von der Zukunft erwarten, wird man vielleicht - wer will das schon so genau wissen? - auf eine Offenheit und Aufgeschlossenheit stoßen, die man so nicht erwartet hat. Sollte Czernowitz zwischen Moderne und Geschichte wählen, sind wir möglicherweise mitten in einem Streit um die Berliner Lindenoper - oder, das liegt eigentlich viel näher, im weiten Feld der mittleren Banal- und Brachialarchitektur, die das zeitgenössische Bauen in weit höherem Maße bestimmt als die Solitäre der Sommerakademie.
Also: Czernowitz wird sich entscheiden müssen. Man kann die Stadt nicht zweimal verkaufen. Wenn Antonina Tarasowa in der Zeitschrift "Bukowina" mangelndes Interesse bei den Verantwortlichen für das Projekt der Sommerakademie konstatiert und zugleich moniert, man habe den Studenten für ihre beträchtliche und selbstlose Arbeit nicht einmal gedankt, scheint die Unterstützung der in diesem Band vorgestellten Arbeiten in Czernowitz selbst nicht einhellig zu sein. Vielleicht weiß man in der westukrainischen Stadt sehr wohl, was auf dem Spiel steht. Man hat bei der UNESCO einen Antrag gestellt, in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen zu werden. Da ist man vorsichtig. Andererseits möchte man sich nicht der ökonomischen Basis beraubt wissen und will mit der Zeit gehen. Vielleicht findet man zu einem erträglichen Miteinander von Neu und Alt, ohne sich an dem baulichen Gesamtkunstwerk zu vergreifen. Es wäre der Stadt zu wünschen.
Ein Wort noch zu einem Detail. Peter A. Lehner widmet eine - durchaus lesenswerte - Hommage seinem Vater, Dr.-Ing. Josef Lehner, der als Czernowitzer Architekt 1930/31 das Haus in Barleongasse, Strada Zimbrului, bis 1918 Schmied-Gasse, heute Целана вул., Гребінки вул., ganz im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaut hat, Seite 128. Der Schock aber, der den Autor befällt, mit dem baulichen Zustand von Haus und Garten im Jahre 1990 konfrontiert, lässt sich nur bedingt nachvollziehen. Da mag der Putz bröckeln und die Fensterscheiben schadhaft sein: 1990 erblicken wir immerhin noch das Original.
Die Renovierung zu Beginn des neuen, gerade erst begonnenen Jahrhunderts aber setzt dem Gebäude eine nicht anders als martialisch zu nennende Kalksandsteinmauer vor die Nase, die nichts mehr von der filigranen Anmut der originalen Grundstückseinfriedung, von deren Transparenz und sensiblen Rhythmik erahnen lässt, wie man sie aber eben zu Sowjetzeiten noch in Augenschein nehmen durfte. Und man muss durchaus nicht an den Details herumkritteln, die das Haus im Zuge der Renovierung gleich dutzendfach verändert haben, den Originalentwurf aber empfindlich stören und ihm einen Teil seines Reizes und seiner kühlen Anmut nehmen, um - wenn man sich schon entscheiden müsste - seine Sympathie für die moderate Verwahrlosung während der Sowjetära zu bekunden.
Die Ausstattung des Bandes ist beeindruckend. Andererseits hätte ihm ein gründliches Lektorat sicher nicht geschadet. Karl Kraus lebte nie in Czernowitz, und die sowjetische Stadt war nicht Chernovsky, wie auch das rumänische Cernăuţi eines rumänischen Referenten noch lange nicht Chernowetz ist. Überhaupt geht es bei der Toponymik drunter und drüber. Da wird der Cecina etwa zum Mount Tsetsyno englisch verwurstet. Man sollte, was die Verwendung diakritischer Zeichen angeht, wenigstens bei der Übersetzung der rumänischen Texte zwischen Tilde und rumänischem Breve unterscheiden können, und die allergewöhnlichsten Rechtschreibfehler in der Übersetzung Günter Zamp Kelps Aufsatz sind nichts als lästig.
Was die Stadt wirklich braucht - wollte man sie in ihrer Doppelexistenz, hier als virtuelles Bild und Text, dort als einzigartigen städtebaulichen Beleg sichern -, wäre eine Bestandsaufnahme ihrer Architektur und ein offenes Bekenntnis zu ihrer zerklüfteten Geschichte. Der Generalplan (Генеральний план міста Чернівці), den die Kommune selbst aufgestellt hat und der in diesem Band besprochen wird, ist vielleicht ein erster Schritt in die richtige Richtung. Leerstand und Verfall jedenfalls tun der Stadt gar nicht gut. Es wäre zu wünschen, die Protagonisten der Sommerakademie würden sich noch einmal zusammentun, diesmal aber ihren ganzen Sachverstand einsetzen, der Stadt wieder auf die Beine zu helfen. Ein Herzenswunsch. Natürlich, es ist nicht ihre, der Universitäten und Fachschulen Profession, auch wenn Julia Lienemeyer - wie oben zu lesen - unter anderem "die Rolle der Architektur als Überbringer der Vergangenheit" sieht. Letztlich will Architektur immer das Neue. Das wissen wir, und es ist bedauerlich. Doch, und trotz alledem: Ehe man mit dem Bauen beginnt, sollte man, wo und wie auch immer, seine Schularbeiten gemacht haben.
Günter Zamp Kelp, Julia Lienemeyer (Hrsg.). Czernowitz Tomorrow.
Architektur und Identität im Aufbruch Ostmitteleuropas.
OWC Verlag. Münster 2008.
ISBN-10: 3939717045.
ISBN-13: 978-3939717041.
Gebunden, 268 Seiten, 49 €